Angriff auf die Nichtverbreitung
Unter dem nuklearen Schutzschirm begeht Israel Angriffe gegen seine Nachbarn. Damit legt es die Axt an den Atomwaffensperrvertrag.
(Bildmontage: Fragen zur Zeit; Karte: Виктор В, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons; Nuclear Hazard: MaxxL, Public domain, via Wikimedia Commons)
Vorbemerkung: Ich veröffentliche das nun vor der geplanten Zeit am 15. 06. um 1 Uhr. Gerade ist die Nachricht reingekommen, daß Israel offiziell um Amerikanische Unterstützung nachgesucht hat.
AUDIOTEXT:
Audiotext: Angriff auf die Nichtverbreitung
Unter dem nuklearen Schutzschirm begeht Israel Angriffe gegen seine Nachbarn. Damit legt es die Axt an den Atomwaffensperrvertrag.
Wen Sie im Mittleren Osten für den Guten und wen für den Bösen halten, ist für die strategische Lagebeschreibung relativ irrelevant. Die Lage ist die: Israel hat Nuklearwaffen und behält sich Angriffe auf seine Nachbarstaaten vor, bei weitem nicht nur auf den Iran. Diese Angriffe reichen bis zum offenen Staatsterrorismus, wie dem Luftangriff auf das iranische Konsulat in Damaskus am 1. April 2024, der Ermordung von Hamasführer Ismail Haniyya auf einem diplomatischen Besuch in Teheran am 31. Juli 2024 oder jetzt den jüngsten Anschlägen auf iranisches Führungspersonal.
Weltpolitisch ist dieser Staatsterrorismus viel gefährlicher als der Völkermord im Gazastreifen. Über letzteren mag man sich moralisch entrüsten, aber die harte Realität ist, daß Israel die Palästinenser ausrotten kann, ohne daß die ernsthafte Möglichkeiten haben, sich zur Wehr zu setzen. Es hat einen Grund, aus dem Staatsterrorismus relativ selten ist, obwohl, wie Israel gezeigt hat, der mögliche Schaden, der damit angerichtet werden kann, beträchtlich ist. Dieser Grund liegt nicht in moralischen Bedenken. Er liegt darin, daß die Gegenseite zurückschlagen kann, und dann hat man selbst das Problem, daß es sehr schwer ist, sich gegen Terrorismus zu verteidigen, der von professionellen Geheimdiensten ausgeübt wird. Vor allem bei Mordanschlägen auf Führungspersonal wird die Abwehr gegen einen modern operierenden Gegner absolut ekelhaft. Man frage bloß einmal Leute, die gegen die Mafia vorgegangen sind und deshalb unter Polizeischutz leben müssen. Ein solches Leben ist kaum freier als ein Gefängnisaufenthalt. Ein staatlicher Geheimdienst hat noch einmal ganz andere logistische, vor allem aber technologische Mittel. Inzwischen braucht man dafür nicht einmal mehr einen Scharfschützen. Eine Drohne kann heute irgendwo in der Nähe eines Hauses platziert werden und losfliegen, wenn der Attentäter längst weg ist und die Position des Zieles elektronisch oder über Satellit bestätigt wurde. Wer davor geschützt sein will, der muß sein Leben im Bunker verbringen. Das wird auch der Grund gewesen sein, aus dem das iranische Personal nicht geschützt war: Auch Generäle und führende Ingenieure eines Atomprogramms wollen Zeit mit ihren Familien verbringen. Deshalb sind gegenseitige Mordanschläge auch unter erbittert miteinander verfeindeten Staaten selten. Sie sind auch im Krieg zwischen Rußland und der Ukraine nicht vorgekommen. Das zu der Frage, was der Unterschied zwischen dem israelischen und dem russischen Vorgehen ist.
Israel ist nun in der Situation, als einziges Land seiner Region über eine nukleare Abschreckung zu verfügen. Seine Feinde müssen daher bei Reaktionen auf israelische Angriffe die Möglichkeit einrechnen, daß Israel bis zur nuklearen Vernichtung hin eskaliert. Das wird auch Israel nicht ohne weiteres tun. Aber was wäre, wenn Israel einen Abtausch an Raketen und Drohnen verliert? Gerade für den Iran besteht das Problem, daß bei einem Schlagabtausch nach einem israelischen Angriff immer die Gefahr der völligen Ausrottung im Raum steht.
Der Iran ist damit in einer schwierigen Lage. Außenpolitisch ist er von russischem und chinesischem Wohlwollen fast so abhängig wie die Israelis von amerikanischem. Weder Rußland noch China wollen den Club der Atommächte erweitern. Vor allem aber wäre eine iranische Atombombe der Startschuß für die nukleare Aufrüstung zumindest Saudi-Arabiens und der Türkei, wenn nicht gar aller Länder der Region. Die bisherige Lösung bestand darin, daß der Iran auf den Bau einer Nuklearwaffe verzichtete, aber die Kapazitäten behielt, relativ schnell eine nukleare Abschreckung aufzubauen, sollte die Notwendigkeit eintreten. Das ist nicht so ungewöhnlich.
Einen Nuklearsprengkopf zu bauen ist heutzutage kein besonderes Hexenwerk mehr. Die Technologie ist 80 Jahre alt. Die meisten entwickelten Länder wären dazu recht rasch in der Lage, und der Atomwaffensperrvertrag garantiert jedem Mitgliedsland das Recht auf ein ziviles Atomprogramm, welches immer auch das Material für ein nukleare Aufrüstung liefern kann. Die eigentliche Schwierigkeit sind die Trägersysteme. Aber auch über die verfügt heute jedes gut ausgerüstete Militär, zumindest was die Mittelstreckenreichweite anbelangt. Der Grund ist die Steigerung der Präzision moderner ballistischer Raketen. Ballistische Raketen sind aufgrund ihrer enormen Geschwindigkeit im Endanflug und hohen Flughöhe das mit großem Abstand zuverlässigste Trägersystem für einen Nuklearsprengkopf und das Rückgrat jeder nuklearen Abschreckung. Im Kalten Krieg waren sie noch so unpräzise, daß ballistische Raketen auch nur als atomare Waffenträger eingesetzt werden konnten. Bei einem Atomsprengkopf ist es nicht so schlimm, wenn er einige hundert Meter daneben landet. Deshalb hatten Nichtatommächte oft gar keine solchen Raketen. Die Bundeswehr etwa verfügt bis heute über kein derartiges System. Aber spätestens der Ukrainekrieg hat gezeigt, daß heutige Mittelstreckenraketen präzise genug sind, um auch konventionell eingesetzt zu werden. Eine moderne Armee hat ohne sie eine empfindliche Fähigkeitslücke. Im Iran sind solche Raketen seit vielen Jahren ein wichtiger Teil der Militärdoktrin und trugen auch die Hauptlast bei allen bisherigen Schlägen gegen Israel. Aber ganz unabhängig vom Iran: Die nukleare Nichtverbreitung ist aufgrund dieser Veränderungen in der Waffentechnologie sowieso schwieriger aufrechtzuerhalten geworden.
Daß die Stellung Irans als Beinahe-Atommacht ein gewisses Gleichgewicht erzeugt hat, zeigt allein, daß diese Lösung des iranisch-israelischen Konflikts zwei Jahrzehnte lang gehalten hat. Es ist immer etwas dürftig, auf vergangene Ereignisse nachträglich eine Theorie zu legen. Aber wenn ich raten müßte, dann würde ich sagen, daß die Israelis und auch die Amerikaner in dieser Situation ebenfalls große Anreize hatten, gegenüber dem Iran Zurückhaltung zu üben. Denn eine Reihe konventioneller Angriffe, die darin scheitern, das iranische Nuklearprogramm auszuschalten, würden auf iranischer Seite zum Bau der Bombe führen und Iran auch gegenüber seinen russischen und chinesischen Gönnern die Rechtfertigung dafür liefern. In diesem Fall hätte Israel vor der Entscheidung gestanden, entweder einen nuklearen Vernichtungsschlag auszuführen und damit für die ganze Welt außer Julian Reichelt zum Paria zu werden oder einen Rivalen mit eigener Nuklearabschreckung zu dulden. Bei dieser Perspektive war der Status Quo auf für Israel etwas, womit man Leben konnte.
Inzwischen hat sich sowohl in Israel als auch in den Vereinigten Staaten viel geändert. Über die Lage in Amerika brauche ich hier nichts zu sagen, außer daß gerade gestern die Sprecherin der Demokraten im Repräsentantenhaus von Minnesota erschossen wurde, kurz nachdem sie zusammen mit den Republikanern gegen Gesundheitsfürsorge für illegale Einwanderer gestimmt hatte. Was Israel anbelangt, so muß man öfter wiederholen, daß Netanjahu nach mehreren Regierungskrisen, Neuwahlen und mit einem laufenden Korruptionsverfahren nun an der Spitze einer Koalition aus sieben Parteien steht und ohne religiöse Wirrköpfe und Ultrazionisten nicht an der Macht und wahrscheinlich auch nicht aus dem Knast bleiben kann. Im Verlauf seines Krieges hungert er nicht nur Gaza aus, sondern hat jenseits des Golan weitere Teile Syriens bis in eine Nähe von 20 km zu Damaskus besetzt.
In den jüngsten Verhandlungen haben sich die Amerikaner dann entweder, wie Sondergesandter Steve Witkoff und Außenminister Marco Rubio, gleich auf den Standpunkt Netanjahus gestellt und die vollständige Stilllegung des iranischen Atomprogramms gefordert oder aber, laut vorliegenden Dokumenten von Axios, zumindest eine radikale Beschränkung1. Das ist für den Iran nicht akzeptabel und macht das bisherige Gleichgewicht unmöglich. Vor allem, da die USA in Trumps erster Amtszeit bereits das Atomabkommen seines Vorgängers mit dem Iran zerrissen haben und die Glaubwürdigkeit sowieso im Keller liegt.
Das alles hat dazu geführt, daß das Gleichgewicht aus alleiniger israelischer Nuklearabschreckung bei gleichzeitigem iranischen Atomprogramms jetzt auf Messers Schneide steht. Wenn der Iran eine Atombombe baut, dann werden die Türkei und Saudi-Arabien nachziehen, dann bricht im ganzen Mittleren Osten das Nichtverbreitungsabkommen zusammen, vielleicht sogar darüber hinaus. Ein Nichtverbreitungsabkommen, das Israel übrigens nie unterzeichnet hat. Aber dieser drohende Zusammenbruch des Nichtverbreitungsregimes, den es selbst verursacht hat, ist ironischerweise eines der Pfänder, mit denen Israel zur Zeit wuchern kann.
Damit kann Netanjahu seinen Kollegen in den westlichen Staaten erklären, daß jetzt entweder der Iran schnell niedergerungen werden müsse oder das Nichtverbreitungsregime in Gefahr sei. In den europäischen Ländern wäre da noch denkbar, daß sie Israel einfach die konventionelle Unterstützung entziehen. Aber auf die kommt es bestenfalls in zweiter Linie an. In Amerika hat Donald Trump gerade ein Haushaltsgesetz durchzubringen, bei dem er mindestens 50 republikanische Senatoren braucht. 53 Republikaner gibt es im Senat. Die Israellobby hat mehr als die Macht, seine Präsidentschaft allein dadurch zu zerschießen. Trump kann Israel die Unterstützung nicht entziehen. Kein US-Präsident könnte es.
Solange Israel aber die konventionellen Kapazitäten erhält, um den Iran anzugreifen, solange kann es seine derzeitige Politik weiterführen, in der ein Iran, der selbst über keine nukleare Abschreckung verfügt, bei jeder Eskalationsrunde der nuklearen Vernichtung ins Auge sehen muß. Man muß keine Sympathien für die islamische Republik haben, um zu begreifen daß das keine stabile Situation ist.
Ravid, Barak (2025): Scoop: U.S. nuclear deal offer allows Iran to enrich uranium, in: Axios 02. 06. 2025 https://www.axios.com/2025/06/02/iran-nuclear-deal-proposal-enrich-uranium.