Arestowytsch von der Moldau
Man muß dem Jungeuropa Verlag zum verlegerischen Mut gratulieren, Emanuel Moravec’s Buch „Das Ende der Beneš-Republik“ auf neu herausgegeben zu haben.
Als Audiotext
(Bildquelle: Emanuel Moravec: https://de.wikipedia.org/wiki/Emanuel_Moravec#/media/Datei:E_M_1893_1945_Plk_Gen_Stabu_Cs_Armady_1935.jpg
„Das Ende der Beneš-Republik“: https://www.jungeuropa.de/jungeuropa/348/das-ende-der-benes-republik)
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Der geringere Teil des Mutes wird notwendig gewesen sein, weil Moravec (Moravetz ausgesprochen) nach dem Zerfall der Tschechoslowakei an prominenter Stelle mit den Deutschen zusammenarbeitete und sich am 5. Mai 1945 erschoss, um nicht in die Hände seiner aufständischen Landsleute zu fallen.
Schwerer als die Tatsache, daß Moravec Kollaborateur und Nationalsozialist war, dürfte die Frage gewogen haben, ob ein derartiges Dokument der Geschichte überhaupt jemanden interessieren würde. Wer würde bereit sein, sich über zweihundert Seiten hinweg durch die diplomatischen Windungen und die militärischen Operationsplanung zu einem Detail der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu quälen: Der ersten tschechoslowakischen Republik von 1918 bis 1939?
Anders als Danzig und der Korridor, löste die Krise um die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei keinen Weltkrieg aus und die einzige Behandlung, welche sie gewöhnlich erfährt ist das Bedauern eben darüber, daß Neville Chamberlain sich in München auf eine friedliche Lösung einließ.
Andere, vor allem Deutsche, verweisen dagegen darauf, daß die Tschechoslowakei ein unnatürlicher Vielvölkerstaat war, der auf der Versailler Konferenz allein um der französischen Interessen Willen geschaffen worden war. Für die tschechische Position interessiert sich für gewöhnlich niemand. Dabei ist diese die interessanteste und für das heutige Europa die wichtigste.
Die Tschechoslowakei war, wie gesagt, vor allem das Ergebnis der französischen Lage nach dem ersten Weltkrieg: Frankreich hatte gesiegt, aber nur durch die Unterstützung der Briten und Amerikaner. Der Blutzoll war hoch gewesen und das damals schon geburtenschwache Land, konnte ihn kaum ausgleichen. Wichtiger aber: Da Frankreichs Sieg nicht auf der eigenen Kraft beruhte, stellte sich für Clemenceau die Frage, wie denn der Sieg abzusichern sei. Die bloße Annexion Elsaß-Lothringens konnte den Machtunterschied zwischen Frankreich und Deutschland schwerlich ausgleichen, zumal der Zusammenbruch des Zarenreiches wie der Habsburgermonarchie nicht nur die Möglichkeit eines österreichischen Anschlusses, sondern auch einen Gürtel kleiner Nationalstaaten hervorgebracht hatte, der dazu bestimmt schien, deutsches Interessengebiet zu werden. Kurz: 1919 war Frankreichs Position durch die deutsche Entwaffnung sehr stark, doch war abzusehen, daß ihm die Früchte des Sieges in dem Moment entgleiten würden, in welchem Deutschland wieder aufgerüstet sein würde, ohne daß Frankreich unbedingt auf London und Washington zählen könnte. Darauf, daß die Konstellation des Weltkrieges auf unbestimmte Zeit erhalten bleiben würde, konnte man in Paris schwerlich die eigen Zukunft verwetten.
Die Lösung Clemenceaus bestand neben ruinösen Tributzahlungen und permanenten Rüstungsbeschränkungen vor allem in der Errichtung einer Reihe von osteuropäischen Satellitenstaaten, deren Existenz von Frankreich abhängen sollte. Der instabile Vielvölkercharakter Jugoslawiens, der Tschechoslowakei aber auch die zahlreiche Minderheiten einschließenden Grenzen Polens, waren aus diesem Grund gewollt.
Für das tschechische Volk ergab sich daraus eine vertrackte Lage. Da auch die Slowaken die staatliche Einheit mehrheitlich ablehnten, bildeten die Tschechen mit 7 Millionen das Staatsvolk eines Staates von 14 Millionen Einwohnern, dessen größte Minderheit, die 3,5 Millionen Deutsche, einem weitaus stärkeren Nachbarvolk angehörten. Während man mit diesen Deutschen irgendwie umgehen musste, beruhte die gesamte Existenz der Tschechoslowakei auf französischen Garantien.
Das führte zu dem von Moravec analysierten fatalen Dilemma: Der tschechoslowakische Staat konnte prinzipiell auf zwei Weisen mit seiner deutschen Minderheit verfahren. Er konnte sie unterdrücken, oder aber versuchen sich mit ihr und dabei auch mit dem deutschen Mutterstaat selbst ins Einvernehmen zu setzen. Ein solches Einvernehmen hätte sich aber nicht auf deutschen Schulunterricht und Brauchtumspflege beschränken können, sondern irgendeine Art der politischen Mitbestimmung im tschechoslowakischen Staat beinhalten müssen. Aus französischer Sicht war freilich ein Bündnis mit einem Staat, der Vertreter einer deutschen Volksgruppenpartei in seiner Regierung unterhält, unsinnig und die französische Diplomatie ließ Prag nicht darüber im Unklaren, daß man in diesem Falle seine Garantien würde überdenken müssen.
Die ganze tschechische Unabhängigkeit stand und fiel aber mit diesen Garantien. Ohne Frankreich mußten die Tschechien allein aufgrund ihrer geographischen Lage zu einem Vasallenvolk des Deutschen Reiches werden. Man bedenke, daß es damals nicht nur die heutige deutsch-tschechische Grenze gab, sondern der tschechische Siedlungsraum im Norden auch noch vom deutschen Schlesien, im Süden vom seit dem Anschluß ebenfalls deutschen Österreich umschlossen war.
Wollten die Tschechien sich nicht in deutsche Abhängigkeit begeben, blieb ihnen nur darauf zu hoffen, daß Frankreich seine Verpflichtungen zu jeder Zeit und unter allen Umständen einhalten würde. Als Frankreich Mitte der 30er Jahre in innenpolitische Wirren stürzte, während Deutschland sich Stück für Stück aus den Fesseln von Versailles befreite, wurde das immer unwahrscheinlicher.
Für die Tschechoslowakei gab es von da an nur noch schlechte Optionen.
Wer sich an die heutige Lage der Ukraine erinnert fühlt, der liegt richtig. Und selbst zu Moravec gibt es eine Entsprechung: Im Rückblick gleicht er auf verblüffende Weise dem Ukrainer Oleksij Arestowytsch, der erst im Stab vom Wolodymyr Selenskyj tätig war und dann wegen einer Analyse, die der Moravecs verblüffend ähnelt, auf die Myrotvorets Liste der „Feinde der Ukraine“ gesetzt wurde.
Wie Moravecs ist Arestowytsch ein Offizier, der sich als Publizist einen Namen machte und damit zur politischen Persönlichkeit wurde. Wie Moravecs zunächst einen harten Kurs gegenüber der deutschen Minderheit vertrat, so war Arestowytsch zunächst ein Verfechter der Ukrainisierungspolitik, der den Krieg gegen Rußland aus der Berechnung heraus suchte, daß man ohne Krieg irgendwann durch die geographische Lage und die russische Minderheit wieder in den russischen Orbit gezogen werden würde. Wie Moravecs sah er irgendwann, daß die angeblich unbegrenzte Unterstützung des angeblichen großen Bruders nicht annähernd ausreichen würde.
Wir haben uns seit 1945 in Europa an die einfache Welt außenpolitischer Blockkonfrontationen gewöhnt. Wer heute „Das Ende der Beneš-Republik“ liest wird zunächst einmal feststellen, wie komplex die europäischen Konstellationen vor der Zeit amerikanischer Hegemonie waren. Und wie wechselvoll. Die letzten Jahre der ersten tschechoslowakischen Republik waren ein beständiges Rechnen mit den Bündnissen, auf die man sich für den Moment verlassen zu können glaubte und ihrem strategischen Kampfwert in diesem Jahr, diesem Monat, dieser Woche. Ein diplomatischer Tanz nach dem Stundentakt der Mobilmachungspläne.
„Das Ende der Beneš-Republik“ ist der europäische Normalfall.