Je mehr geopolitische Klassiker ich lese, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, daß sich hinter diesem Wort meist Scharlatanerie verbirgt.
Sprechen wir hier nicht von Dugin, bei dem sich politische Analyse wild mit Mystik vermengt. An anderer Stelle habe ich vor kurzem Halford Mackinder (1861-1947) behandelt, dessen Herzlandtheorie sich seit einem Jahrhundert konstant als falsch erweist.
Der einzige Name, der noch häufiger als der Mackinders durch geopolitische Debatten geistert, ist der des polnisch-amerikanischen Diplomaten und Politikwissenschaftlers Zbigniew Brzezinski (1928-2017). Wobei die Wirkungsgeschichte beider eine bezeichnende Parallele aufweist: Es handelt sich um Autoren, die fast ausschließlich von ihren Gegnern rezipiert werden, in der Annahme, daß in ihren Schriften die eigentlichen Handlungsgrundsätze der britischen, respektive amerikanischen Außenpolitik offen ausgesprochen würden.
Es sind Deutsche, die bei Halford Mackinder bis heute nach dem Grund für die fundamental irrationale Politik der Briten zwischen 1914 und 1945 suchen. Ebenso sind es die Gegner der Vereinigten Staaten, welche Brzezinskis 1997 erschienenes Buch „Die Einzige Weltmacht“ (org. „The Grand Chessboard“) bis heute im Gespräch halten. Dabei werden endlos dieselben beiden Thesen zitiert:
1. Daß die Vereinigten Staaten ein Zusammengehen Deutschlands und Rußlands verhindern müssten.
2. Daß Rußland ohne die Ukraine keine Großmacht mehr ist und die Vereinigten Staaten deshalb die Ukraine in den westlichen Orbit ziehen müsse.
Wie in der Rezeption Mackinders werden diese Aussagen als Dogmen wiederholt, ohne über die Annahmen und Gründe des jeweiligen Autors zu reflektieren. Geopolitik ist dadurch im öffentlichen Diskurs zu einer Art Zauberlehre geworden, die Nichterklärungen als Ursachen des Weltgeschehens anbietet.
Wie Mackinder hat auch Brzezinski wohlartikulierte Gründe für seine Aussagen. Nur sind diese, ebenso wie bei Mackinder, grundlegend fehlerhaft. Und beide haben bezeichnenderweise denselben blinden Fleck, doch dazu am Schluß.
Die Kernidee des Herzlandes hat Brzezinski von Mackinder übernommen. Sie besagt, daß das Zentrum der eurasischen Landmasse das wichtigste Gebiet im globalen Machtkampf sei und daß diejenige Macht auf dieser Welt vorherrsche, welche dieses Gebiet oder zumindest seine Verbindungslinien zum Rest der Welt kontrolliere. Letzteres ist natürlich für eine Seemacht, wie Großbritannien Anfangs und die Vereinigten Staaten von Amerika Ende des 20. Jahrhunderts die bedeutend realistischere Option.
Mackinder begründete die Herzlandtheorie noch auf eine Weise, die zu seiner Zeit als Möglichkeit ins Auge gefasst werden musste: Zentraleurasien ist das größte zusammenhängende Gebiet und angesichts der Fortentwicklung der Eisenbahntechnologie, sowie der damaligen Geburtenraten im russischen Zarenreich werde dieses vormals isolierte und dünn besiedelte Gebiet in seiner Bevölkerungsdichte an China und Europa heranwachsen. Daß ein solcher Koloß tatsächlich der neue Hegemon der Welt wäre, daran ist wenig zu zweifeln, nur ist der Seetransport auch im Jahr 2023 noch deutlich günstiger als der Landtransport und die Steppe zwischen dem Ural und der chinesischen Grenze immer noch dünn bevölkert.
Bei seiner Wiederaufnahme der Herzlandtheorie im Jahr 1997 konnte Brzezinski also schlecht Mackinders Begründungen wiederholen. Eine wirkliche Erklärung liefert er auch nicht. Das was einer solchen noch am nächsten kommt ist der Verweis auf den Ressourcenreichtum der damals seit wenigen Jahren unabhängigen zentralasiatischen Republiken: Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan und all die anderen Stans. Nach diesem Kriterium könnte man freilich genauso gut Afrika zum Nabel der Welt erklären. Von den sieben Kapiteln des Buches behandeln vier konkrete geographische Regionen. Davon handelt ein ganzes nur von diesen Stans- und das Rußlandkapitel zu einem guten Teil ebenfalls. Ein weiteres Kapitel handelt von Europa. China erhält lediglich ein Unterkapitel in der Rubrik Fernost.
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