Das Ende der Grundrechte
Halbnackt, nur mit einheitlichen weißen Unterhosen bekleidet, gebückt, eng aneinander, oder einer nach dem anderen gefesselt den Gang entlang gehetzt.
(Gefangene Pandilleros in El Salvador Quelle: Link))
Die Bilder stammen aus einem Kurzvideo, welches Nayib Bukele, der Präsident El Salvadors, auf seinem Twitteraccount veröffentlicht hat.
Die Mißhandlung der Gefangenen geschieht in seinem eigenen Land und auf seinen Befehl. Das ist das Bemerkenswerte. Würde man dieses Video ohne Kenntnis der Herkunft abspielen, jedermann hielte es für eine Propagandaproduktion von Amnesty International oder einer der anderen Menschenrechts-NGO’s welche seit Jahren gegen den harten Kurs Bukeles im „Guerra Contra las Pandillas“ (Krieg gegen die Banden) Sturm laufen.
Für gewöhnlich scheuen sich Regierungen, das Innenleben der Gefängnisse der Öffentlichkeit vorzuführen. Das gilt auch und gerade für Länder mit besonders weicher Strafjustiz. Der Knast ist der Ausputzer der Gesellschaft und wie jede Müllhalde eine unappetitliche Angelegenheit. Unabhängig ihrer Verbrechen sind Strafgefangene nun einmal Opfer einer entmenschlichenden Gewalt und kein Staat möchte zeigen, was er tut und tun muß um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Unsichtbarkeit des Strafvollzuges gehört zu den Lebenslügen der bürgerlichen Gesellschaft.
Das war keineswegs immer so. Es ist kaum mehr als 200 Jahre her, daß öffentliche Folter und Hinrichtungen zur Normalität gehörten. Wer die Straße entlang kam, der konnte vor den Toren eine gehängte Leiche, oder einen aufgespießten Kopf sehen. Als Erinnerung daran, wie man hier mit Verbrechern verfuhr. Die Veröffentlichung des salvadoreanischen Videos folgt demselben Prinzip: Die Einschüchterung der Kriminalität durch die brutale Zurschaustellung der Staatsgewalt.
Und die Aussage, El Slavador habe ein Kriminalitätsproblem ist zwar richtig, führt aber am Kern der Sache vorbei. Die Maras oder Pandillas, wie die Banden in Lateinamerika genannt wird, sind nicht bloß ein sozialer Einflußfaktor, der die Kriminalitätsstatistik nach oben treibt. Sie sind eine Form der organisierten Kriminalität, welche, wie es so heißt, den Staat herausfordert. „Den Staat herausfordern“, ist dabei, wie jeder weiß, der sich einmal mit der Mafia beschäftigt hat, keine besonders treffende Formulierung. Die organisierte Kriminalität will den Staat keineswegs ersetzen (dann müsste man sich ja auch um Dinge kümmern, die keinen Profit einbringen), sondern ihn korrumpieren, von ihm parasitieren und im Zweifelsfalle diejenige Macht sein, vor der die Menschen, ob hoch oder niedrig, Straßenhändler oder Richter, die größere Angst haben.
Die 103 Morde pro 100.000 Einwohner, mit denen die Bandenkriminalität im Jahre 2015 ihren traurigen Höhepunkt erreicht hatte, konnten deshalb nicht als Summe von Einzelfällen behandelt werden. Die Bestrafung der jeweils einzelnen Mördern reichte nicht aus. Man mußte die Strukturen der Maras zerschlagen.
Unter anderen Umständen, dem Parteienunwesen der Weimarer Republik, als alle relevanten Parteien, nicht nur Kommunisten und Nationalsozialisten, Staaten im Staate waren, entdeckte Carl Schmitt das inhärente Grundproblem des liberalen Rechtsverständnisses und der Idee des Rechtsstaates. In zwei Sätzen: Das liberale Projekt ist der Schutz des Individuums, vor der überwältigenden Macht des Staates durch die Garantie unverletzlicher Rechte, über die sich der Staat nicht hinwegsetzen dürfe. Der liberale Rechtsstaat ist dadurch hilflos, sobald sich organisierte Gruppen von Menschen, die eine ganz andere Macht haben, als ein einzelnes Individuum, hinter den Rechten verschanzen, welche auf das Machtverhältnis zwischen Individuum und staatlichem Leviathan zugeschnitten sind.
Um das zu verstehen, müssen wir zu den Anfängen des modernen Menschenrechtsgedankens zurückblicken: Daß Menschen Rechte haben, ist keine Idee der Aufklärung. In früheren Zeiten jedoch, wurde der Schutz der Menschen vor staatlichem Machtmißbrauch nicht durch allgemeine Rechte gewährleistet, sondern durch die jeweils eigenen Gruppen, denen eine Person angehörte. Die Sippe, der Stand, die Zunft etc. Die Rechte einer Person wurde also von einer überschaubaren Gemeinschaft garantiert, der sie jeweils angehörte und die klein genug war, daß der Einzelne in ihr kein unbedeutendes Sandkorn im Getriebe war. Gleichzeitig waren diese Gemeinschaften nach außen ein politische Macht, zumindest lokal und in dem für sie relevanten Ausschnitt aus dem komplexen Geflecht wohlerworbener, also gerade nicht allgemeiner Rechte, welches das politische System des europäischen Mittelalters bildete: Treueverpflichtungen, Freiheitsrechte, Über- und Unterordnung, all das, was wir unzureichend unter „Lehenssystem“ zusammenfassen.
Gegen dieses Gewirr ohne klar benennbare Souveränität setzten sich mit der Neuzeit Staaten durch, die erfolgreich eine zentrale Souveränität und ein Gewaltmonopol beanspruchten und durchsetzten. Das Wort „Absolutismus“ bedeutete “absolut”, also losgelöst, von den Einschränkungen, welche in früherer Zeit die Rechte der Stände den Kronen auferlegt hatten. Nicht die Rechte der Bürger, oder gar aller Menschen überhaupt. Für viele der von den religiösen Bürgerkriegen gebeutelten Menschen des 17. Jahrhunderts war dies ein Segen. Thomas Hobbes berühmte Rechtfertigung der uneingeschränkten Staatsgewalt beruht in allen Aspekten auf demselben Argument: Wer das Recht des Leviathans einschränken will, der spricht den Untertanen das Recht zur Rebellion zu (denn wer sollte sonst über den Staat urteilen?). Damit öffnet er den Schrecken des Bürgerkrieges, welche schlimmer sind als jede Tyrannei, das Tor.
Natürlich stellte sich jedoch sehr bald heraus, daß der nun als einzelner Privatmann, ohne den Rückhalt eines Standes oder einer vergleichbaren Organisation, vor dem Staat stehende Mensch, dem bürokratischen Apparat dieses Staates hilflos ausgeliefert ist. Der Angehörige des Feudalsystems war seinem jeweiligen Herrn auch immer als Verhandlungspartner gegenüber gestanden. Als Untertan des absolutistische Staates wurde er zur Verfügungsmasse einer Verwaltung, die mit ihm nach belieben verfahren konnte, ohne eigene Nachteile befürchten zu müssen. Dieser gewaltigen Machtdifferenz abzuhelfen, wurden die Menschen- und Bürgerrechte eingeführt. Die wesentlichsten dieser Rechte sind mit dem Prädikat „unveräußerlich“ versehen, was bedeutet, daß sie, anders als die alten Standesrechte, eben nicht erworben und wieder veräußert werden können und damit der Verhandlung zwischen Obrigkeit und Untertan entzogen sind. Diese Unveräußerlichkeit soll ein Bündel von Grundrechten vor der Übermacht des Staates gegenüber dem Einzelnen bewahren, welche in solchen Verhandlungen ja immer zum Tragen käme.
Wir fassen zusammen: Die unveräußerlichen Grundrechte sind nicht bei Entstehung der Welt vom Himmel gefallen und wurden viel später erst von weisen Philosophen entdeckt. Sie entstammen einer bestimmten historischen Machtverteilung zwischen Staat und Untertan in welcher die Obrigkeit als allmächtiger Leviathan einer Summe vereinzelter Individualbürger gegenübersteht.
Von einer solche Übermacht des salvadoreanischen Staates kann gegenüber den Maras nicht die Rede sein. Und anstatt diese Tatsache zu leugnen streicht die Regierung Bukele sie heraus indem sie von einem Krieg gegen die Banden spricht und sich vom Parlament den Ausnahmezustand bewilligen läßt. Die Vermischung der Kategorien von Krieg und Polizeiaktion führt dazu, daß tatsächlichen, oder auch nur vermuteten Pandilleros, Teile ihrer Menschen- und Bürgerrechte, insbesondere das Recht auf einen Anwalt entzogen werden können, selbstverständlich ohne daß sie deshalb in den Genuß der Rechte von Kriegsgefangenen kämen. Das neue Riesengefängnis „Centro de Confinamiento del Terrorismo”, in das die Verhafteten gebracht werden, wird von Menschenrechtsorganisationen als Konzentrationslager bezeichnet. Das ist nicht falsch. Der Sinn dieser Anlage, welche 0,6m Platz für den Gefangenen vorsieht, besteht darin, die Angehörigen der Maras konzentriert und von der gesamten restlichen Bevölkerung, auch der restlichen Gefängnisbevölkerung getrennt unterzubringen. In den meisten Fällen wohl bis zum natürlichen, oder weniger natürlichen Tod.
Damit soll die Macht gebrochen werden, welche die Banden bisher aus den Gefängnissen heraus ausgeübt haben. Diese waren die wichtigste Rekrutierungsstätte der Banden und gleichzeitig einer der Hauptgründe, warum die Kriminalität so zentral organisierbar war. Das Problem ist: Jeder Kriminelle muß damit rechnen, einmal im Knast zu landen und selbst wenn er außerhalb des Gefängnisses unter dem Radar der Maras operieren könnte, im Knast braucht er eine Gruppe die ihn schützt. Er muß sich einer Bande anschließen. Solange die Haftbedingungen die Kommunikation zwischen Gefängnis und Außenwelt irgendwie gestatten, erzeugt so die Strafverfolgung selbst eine Nachfrage nach einem Gut (Schutz im Knast) auf daß die Banden ein noch strengeres Monopol haben, als auf illegale Rauschmittel.
Diesen Mechanismus, bei dem eine Zunahme der Gefängnisbevölkerung zu einem Mitgliederzuwachs der Banden führt, will Bukele durch die Entrechtung der Gefangenen brechen, durch ihre Reduktion von Rechtssubjekten zur Verfügungsmasse der Gefängnisverwaltung. Ebenso dient die Aufhebung des physischen wie elektronischen Postgeheimnisses, in El Salvador darf die Polizei inzwischen alles und jeden Abhören, der Zerschlagung der Organisationsstrukturen der Maras außerhalb der Gefängnisse. Eine Geste mit geringen praktischen Konsequenzen, aber hochsymbolisch für die Entrechtung der Bandenmitglieder ist öffentliche Zerstörung sämtlicher mit Bandensymbolik geschmückter Grabsteine.
Angesichts der Ohnmacht des an die Individualrechte gebundenen Rechtsstaates gegenüber der organisierten Gewalt der Banden entschied sich die Regierung Bukele für die Aufhebung ebenjener Rechte. Unter dem Jubel des Volkes von El Salvador. Bukele geniest Zustimmungswerte oberhalb der 80% Marke. Diese Popularität überrascht allenfalls internationale Menschenrechtsaktivisten. Das Leben unter der neuen Ordnung Bukeles, der sich entgegen der Verfassung wiederwählen lassen will, ist ohne jeden Zweifel besser, als das unter den Maras. Wo der Rechtsstaat organisierter Gewalt ernsthaft gegenübersteht, liefert er seine Bürger den Verbrechern aus, wenn er an seinen Prinzipien festhält. Das ist die betrübliche Lehre aus El Salvador.
Nayib Bukele *1981, Präsident von El Salvador seit 2019
(https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/ef/Presidente_Bukele_%28cropped%29.jpg)
Wir alle, ob Rechts oder Links, haben uns der Sache nach an die „Kuscheljustiz“ des liberalen Rechtsstaates gewöhnt und schätzen sie auch. Es ist sehr angenehm, wenn man nicht eines Nachts von der Polizei verhaftet werden kann und sich bald in Bukeles neuem Megaknast wiederfindet. Die Ideologen dieses Rechtsstaates aber bestreiten, daß er auf einer Zivilisationsstufe beruht, die uns unter den Händen zerrinnt. In Deutschland haben wir keine Maras, doch inzwischen eine Klankriminalität, die ohne eine Form der Sippenhaft schwer zu brechen seien dürfte. Natürlich wird man das, wenn es soweit ist, anders nennen, etwa den Straftatbestand der Bildung einer kriminellen Vereinigung so weit ausdehnen daß bei der falschen Familie schon die Aufrechterhaltung des Kontaktes darunter fällt. In El Salvador sehen wir möglicherweise in die Zukunft. Grundrechte sind ein zivilisatorisches Artefakt, sie durch Ideologie am Leben zu erhalten, wird nicht gelingen.