Das Ende der Krawatte
Die Tagespolitik lässt uns das Wichtigste oft vergessen. Vor lauter Europawahl und AfD-Selbstdemontage hätte ich Nayib Bukeles Stehkragen doch fast unkommentiert gelassen.
(Nayib Bukele bei der Wiedervereidigung zum Präsidenten von El Salvador 2024)
Ich scherze nicht. Daß der Präsident von El Salvador bei seiner Wiedervereidigung keine Krawatte getragen hat, ist von tieferer und dauerhafterer Bedeutung, als die Frage, ob Maximilian Krah nun Teil der AfD-Delegation in Brüssel ist oder nicht.
Warum? Nicht weil ich ein großer Modeafficionado wäre. Das bin ich ganz gewiss nicht. In meinem Kleiderschrank befindet sich ein unförmiger Haufen übereinander gestapelter Klamotten. Er ähnelt stark meinem Bücherregal.
Aber meine persönlichen Kleidungsvorlieben (Lederjacke, Flanellhemd, dunkle Jeans, dunkle Socken, braune Halbschuhe, danke der Nachfrage), spielen hier keine Rolle. Das Ende der Krawatte ist deshalb so wichtig, weil sich in der Mode und zwar der Herrenmode, nicht der Damenmode, die Klassen, Stände und das Selbstverständnis einer Gesellschaft spiegeln. Die letzten zweihundert Jahre sind hier eine geschichtliche Ausnahmeerscheinung. In fast allen anderen Zeiten gab es eine eindeutige Herrenmode der Oberschicht. Oft genug sogar gesetzlich geschützt. Nur der Adel durfte bestimmte Farben oder bestimmte Kleidungsstücke tragen.
Die farbenfrohe und ausgefallene Tracht der nichtadeligen Landsknechte bedurfte eines gesonderten Privilegs Kaiser Maximilians des Ersten.
Landsknechte im frühen 15. Jahrhundert:
(„Die fünf Landsknechte“, Eisenradierung von Daniel Hopfer aus dem frühen 16. Jahrhundert, Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Landsknecht#/media/Datei:Five_German_Soldiers_MET_DP822162.jpg)
In der Französischen Revolution wurde eine der aufständischen Fraktionen nach ihrer Ablehnung der Adelsmode benannt, die Sansculotten. Die „Ohnekniebundhosen“ die statt der dem Adel zugehörigen Culotte, lange Hosen trugen.
Der amerikanische Politiker Elijah Boardman 1789 noch mit Culotte
((Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Sansculottes#/media/Datei:Ralph_Earl_-_Elijah_Boardman_-_WGA7452.jpg)
Sansculotten während der Französischen Revolution
(Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Sansculottes#/media/Datei:Sans-Culottes.jpg)
Im 19. Jahrhundert verbürgerlichte mit dem Aufstieg des Bürgertums zur bestimmenden Gesellschaftsschicht auch die Mode. Die Adelsmode wurde im Verlauf dieses Jahrhunderts immer weiter in die Uniform zurückgedrängt.
Wilhelm II. in Uniform
(Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_II._(Deutsches_Reich)#/media/Datei:Kaiser_Wilhelm_II_of_Germany.jpg)
Die nicht militärische Herrenmode bestimmte bereits der Bürger mit seinem Anzug bei dem der offene Jackettkragen mit irgendetwas gefüllt werden muß, wofür sich nach einigen Experimenten mit Fliegen und Vatermördern die auch als Managerleine bekannte Krawatte durchsetzte.
Englischer Anzug aus dem 19. Jahrhundert mit Fliege
(Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Anzug#/media/Datei:Suit_1865-70.jpg)
Im 20. Jahrhundert wurden selbst die Uniformen der bürgerlichen Mode angepasst. Der Dienstanzug der Bundeswehr ist genau das: Ein Anzug, inklusive der unvermeidlichen Krawatte.
Bundeswehrsoldat im Dienstanzug
(Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ausgehuniform#/media/Datei:BW_Dienstanzug_Heer.jpg)
Der Siegeszug von Anzug und Krawatte war das alltägliche Symbol der Vermittelschichtung der Gesellschaft. Die Gesellschaft der industriellen Moderne ist eine, deren Kultur und Normen nahezu vollständig von der Mittelschicht bestimmt werden. Nicht, daß es keine Oberschicht gäbe, auch nicht, daß diese Oberschicht nicht herrschte und die Geschicke von Staat und Wirtschaft bestimmte. Aber von ihrem Auftreten, Habitus und Selbstverständnis strebt diese Oberschicht in die Bürgerlichkeit der Mittelschicht und das ist etwas weltgeschichtlich nahezu Einzigartiges. Vielleicht war die Toga der römischen Republik, bei der sich einfacher Bürger und Senator nur durch den Purpurstreifen unterschieden, etwas ähnliches.
Der Schattenmacher regt sich besonders gerne über einen ehemaligen Minister auf, der in Talkshows immer von sich selbst als Bürger spricht, obwohl er zu den mächtigsten und bestvernetzten Männern der Republik zählt. Doch genau das ist das Selbstverständnis der herrschenden Eliten in der modernen Gesellschaft: Sie sind alle Teil des Bürgertums und zwar in seiner politischen Bedeutung des Citoyen ebenso wie in der gesellschaftlichen des Bourgeois.
Auch dezidiert antibürgerliche Bewegungen und Institutionen wurden im 20. Jahrhundert vom Sog der Bürgerlichkeit geschluckt und das sieht man an der Angleichung ihrer Herrenkleidung an das bürgerliche Erscheinungsbild mit Anzug und Krawatte.
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