Das Inhaltsproblem der Machttheorie
Für eine politische Bewegung, welche in grundsätzlichem Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen steht, ist die Natur der Macht Dreh- und Angelpunkt aller strategischen Überlegungen.
(Max Weber, Vater der gängigen Definition der Macht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/65/Max_Weber%2C_1918.jpg)
Denn eine Fundamentalopposition darf, will sie erfolgreich sein, niemals die Umsetzung einer bestimmten Maßnahme zum obersten Ziel ihrer politischen Handlungen machen. Stattdessen muß sie das erringen, was man umgangssprachlich als „die Macht“ bezeichnet. Auch wenn es „die Macht“ als solche nicht gibt, weil Macht, wie wir gleich sehen werden eine bestimmte Struktureigenschaft zwischenmenschlicher Beziehungen bezeichnet, wird dieses Etwas nicht weniger wirklich oder bedeutsam, weil es in präzisen wissenschaftlichen Begriffen schwer zu erfassen ist.
Der Grund für dieses weit gesteckte und schwer fassbare Ziel anstelle eines begrenzteren und klarer beschreibbaren liegt in der Erfahrungstatsache, daß jeder einzeln stehende Triumph flüchtig ist, wenn die Inhaber „der Macht“ einem feindlich gegenüberstehen. Er wurde kurzfristig und oft mit weit überproportionalen Mitteln errungen und wird bei der nächsten Gelegenheit von der Gegenseite wieder beseitigt.
Die gängige Definition des Machtbegriffes liefert Max Weber in seinem berühmten 16. Paragraphen des ersten Kapitel seines erst posthum erschienenen Hauptwerkes „Wirtschaft und Gesellschaft“, welches unter seinem Titel „Soziologische Grundbegriffe“, auch als Einzelschrift veröffentlicht ist. Ich zitiere derartig ausführlich, weil dieser §16 auch dann unbedingt zu kennen ist, wenn man sonst keinen einzigen Satz Weber gelesen hat. Die Stelle ist hier frei verfügbar.
Weber definiert:
„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“
Deshalb ist Macht wie eben gesagt eine Struktureigenschaft einer sozialen Beziehung, nicht die Beziehung selbst, oder die Struktur derselben. Dies ist einer der Fälle, in denen eine leichte Formalisierung die Verständlichkeit deutlich steigert: Wenn wir eine soziale Beziehung B mit einer Struktur S haben, dann ist Macht weder B noch S sondern bloß ein Wert zwischen 0 und 1, der die Wahrscheinlichkeit angibt, mit der eine Person in der Beziehung B ihren Willen auch gegen Widerstreben durchsetzen kann. Diese Wahrscheinlichkeit ist eine Eigenschaft der Struktur S.
Dieser Dreiklang aus Beziehung, Struktur und Wahrscheinlichkeit ist ein nützliches heuristisches Mittel, weil er uns hilft, die Ursachen einer bestimmten Machtwahrscheinlichkeit richtig zu verorten, nämlich auf der Ebene der Struktur, die selbst eine Eigenschaft der Beziehung ist.
Die naheliegende Frage lautet dann, welche Strukturelemente in sozialen Beziehungen Macht generieren. Eine Liste der Strukturelemente, die prinzipiell nicht in irgendeiner sozialen Beziehung die Quelle von Macht seien könnten, wäre freilich kürzer. Doch haben wir oben bereits eine Vorauswahl darüber getroffen, welche sozialen Beziehungen und welche Art von Macht uns interessieren.
Präzisieren wir dafür, was wir unter dem umgangssprachlichen Wort von „der Macht“ im Staat oder der Gesellschaft verstehen, welche oppositionelle Bewegungen erringen wollen: Die sozialen Beziehungen, in welchen hier Macht ausgeübt werden soll, in welchen also eine Chance bestehen soll, den eigenen Willen auch gegen Widerstände durchzusetzen, sind ein Staat und die dazugehörige Gesellschaft. Da wir hiermit nicht bloß die Macht verstehen ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern eine dauerhafte und umfassende Chance seinen Willen durchzusetzen, können wir damit tatsächlich eine große Reihe von Strukturen in einzelnen zwischenpersönlichen Beziehungen wenn nicht ausblenden, so doch in ihrer Bedeutung drastisch zurückstufen. Zwar bleibt der Mätressentest (kann die Macht einer solchen Frau, die keinerlei öffentliches Amt bekleidet und noch nicht einmal in einer institutionell abgesicherten Beziehung zur Quelle ihrer Macht lebt, erklärt werden?) ein wichtiger Prüfstein jeder Machttheorie, doch diese Skalierbarkeit individueller Beziehungsstrukturen existiert bloß auf der allerhöchsten Hierarchieebene.
Aufgrund dieser Skalierbarkeit, die nur hier existiert, ist deshalb die höchste Hierarchieebene diejenige, die daß Potential zu den größten Schwankungen hat und jede soziologischen Machttheorie immer wieder vor Probleme und Ausnahmefälle stellt. Das Amt eines Präsidenten kann durch einen Staatsstreich erlangt und führ Jahrzehnte besetzt gehalten werden. Mit dem Amt eines Stadtschreibers ist das nicht möglich, wie der Hauptmann von Köpenick erfahren mußte.
Da allerdings mit dem Ausdruck „der Macht“ in Staat und Gesellschaft eine dauerhafte und umfassende Chance seinen Willen durchzusetzen gemeint ist, sind hierfür diejenigen Strukturelemente von vorrangiger Bedeutung, welche:
1 (dauerhaft). Die Fähigkeit zur Selbsterhaltung Selbstreplikation hat.
2 (umfassend). Auf einer soziologisch verallgemeinerbaren Basis stehen. Die Strukturelemente dürfen nicht das Merkmal einer Einzelbeziehung sein, sondern müssen sich a) in vielen Einzelbeziehungen wiederfinden und b) der Machteffekt muß aus diesen vielen Einzelbeziehungen stammen. (Die Beziehung einer Mätresse zum Herrscher erfüllt Bedingung a, aber nicht Bedingung b.)
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