Deutschland braucht die Bombe
Wäre Deutschland atomar bewaffnet, dann gäbe es jetzt keinen Krieg in der Ukraine. Nicht weil die Russen uns dann mehr fürchten würden, als jetzt die Amerikaner, sondern weil Deutschland dann in Osteuropa Sicherheitsgarantien vergeben könnte.
(Little boy: US government DOD and/or DOE photograph, Public domain, via Wikimedia Commons)
Der Krieg in der Ukraine und die spannungsgeladene Lage Osteuropas ist das alleinige Produkt deutscher Schwäche. Der Krieg ist in seiner jetzigen Form ein kontingentes Ereignis, die allgemeine Lage aber folgt logisch aus dieser deutschen Schwäche. Ohne deutsche Sicherheitsgarantien, bleibt den osteuropäischen Kleinstaaten nichts, als sich nach einer raumfremden Schutzmacht umzusehen. Die dadurch entstehenden Bündnis- und Interessenkoalitionen sind von sich aus instabil, regionale Konflikte sind die notwendige Folge. Will Deutschland permanente Kriegsgefahr im Osten vermeiden, dann bleibt als einzige Option die Schaffung eines eigenen Sicherheitssystems inklusive eigener nuklearer Abschreckung.
Betrachten wir die Sicherheitslage: Der osteuropäische Raum zwischen Deutschland und Rußland wird von einer Reihe kleiner Staaten ausgefüllt. Einzig Polen und die Ukraine haben eine Einwohnerzahl über 20 Millionen. Alle diese Staaten mussten ihre Unabhängigkeit auf die eine oder andere Weise gegen Rußland gewinnen. Eine russische Hegemonialstellung, welche prinzipiell als stabile sicherheitspolitische Konstellation denkbar wäre, werden diese Staaten nicht akzeptieren, solange sie irgendwie eine andere Möglichkeit sehen. Dabei wäre jedoch keines dieser Länder für sich alleine und selbst alle gemeinsam nicht in der Lage sich ernsthaft einem russischen Ausgreifen zu widersetzen. Gleichzeitig ist den Osteuropäern bewusst, daß die gegenwärtigen Grenzen der Russischen Föderation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, eine historische Tiefwassermarke russischer Territorialausdehnung darstellen. Von einem wiedererstarkten Rußland befürchten sie erneute Expansion. Wie berechtigt diese Befürchtungen gegenüber dem heutigen Rußland sind, ist dabei auf mittelfristige Sicht von untergeordneter Bedeutung. Sollte Rußland sich langfristig mit seinen derzeitigen Grenzen, begnügen, dann könnten sich die Befürchtungen der Osteuropäer über Jahrzehnte hinweg abbauen. Der jetzige Krieg hat allen diesbezüglichen Fortschritt seit dem Fall Ende des Warschauer Paktes vernichtet. Sollte er, was aus russischer Sicht inzwischen das unvermeidliche Ziel ist, mit einer Annektion der russisch besiedelten Gebiete der Ukraine enden, dann werden die osteuropäischen Revisionsängste noch ganz andere Dimensionen annehmen.
Das bedeutet: Für die voraussehbare Zukunft, und voraussehbare Zukunft heißt hier mindestens das nächste halbe Jahrhundert, haben wir mit diesen Befürchtungen als einer Tatsache zu rechnen. Es ist ein Kategorienfehler, der den unverbesserlich politisch Unfähigen verrät, wenn einer versucht, diese Tatsache osteuropäischer Politik mit seiner eigenen Interpretation russischer Absichten vom Tisch zu wischen.
Da diese Staaten nicht annähernd die nötigen Machtmittel haben um ihre eigene Unabhängigkeit zu sichern, benötigen sie eine Schutzmacht. Wenn Deutschland nicht als diese Schutzmacht auftritt, bleibt ihnen lediglich das Bündnis mit raumfremden Mächten übrig. „Raumfremde Macht“ dieses Wort stammt aus den völkerrechtlichen Arbeiten Carl Schmitts, der in den Dreißigern und Vierzigern eine „Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ als Ziel deutscher Außenpolitik entwarf. Nach der Erfahrung des ersten Weltkrieges, als mit den Vereinigten Staaten eine außereuropäische Macht einen europäischen Krieg entschied, wollte Schmitt die Monroedoktrin verallgemeinern. Indem Großmächte sich auf ihre eigene geopolitische Umgebung konzentrieren und gegenseitig von der Intervention auf fremden Kontinenten Abstand nehmen, sollte der Gefahr vorgebeugt werden, daß in einer schon damals globalisierten Welt jeder Konflikt zum Weltkrieg werden kann.
Das bloße Denken in Kontinentalblöcken trifft jedoch nicht das Problem, welches raumfremde Schutzmächte im spezifischen Kontext osteuropäischer Sicherheitspolitik aufwerfen. Deshalb müssen wir spezifizieren, was eigentlich eine raumfremde Schutzmacht ist: Raumfremd ist eine Schutzmacht dann, wenn das Land, welches sie schützen soll, für die Sicherheitsinteressen der Schutzmacht unerheblich ist. Die raumfremde Macht hat also kein existenzielles Interesse. Ein Verlust ihrer Position in diesem Land beeinträchtigt nicht die nationale Sicherheit der Schutzmacht. Raumfremdheit in diesem sicherheitspolitischen Sinne, läßt sich nicht in Kilometern quantifizieren. Westeuropa war während des Kalten Krieges und ist auch heute noch, ein existenzielles Interessengebiet für die Vereinigten Staaten, weil es die atlantische Gegenküste darstellt, deren Kontrolle ein wesentlicher Stützpfeiler amerikanischer Seemacht ist. Ob hingegen die russische Westgrenze an der Wolga oder an der Weichsel liegt, ist aus amerikanischer Sicht demgegenüber sekundär.
Daß die raumfremde Macht kein existenzielles Interesse am Schutz ihres Klientelstaats hat, ist der Grund aus welchem sie so destabilisierend wirkt. Zuallererst natürlich deshalb, weil sie sich ein sorgloses Verhalten erlauben kann, da sie von einem möglichen Krieg nicht direkt betroffen seien wird. Doch das ist nur das offensichtlichste Problem. Gefährlich wird erst das Zusammenspiel destabilisierender Anreize zwischen Klientelstaat und raumfremder Schutzmacht. Dieses Zusammenspiel hat vier Elemente, von denen zwei aus den Staatsinteressen von Schutzmacht und Klientelstaat hervorgehen, die anderen beiden aus der internen Politik der beiden.
Zuerst ist da der Grund, aus dem eine raumfremde Großmacht überhaupt als Schutzmacht eines Staates auftritt, welcher außerhalb des geographischen Bereiches ihrer existenziellen Sicherheitsinteressen liegt. In den allermeisten Fällen ist eine raumfremde Schutzmacht entweder an den Rohstoffen des Klientelstaats interessiert, oder aber sie will durch den Klientelstaat einer anderen Großmacht schaden, welche selbst existenzielle Sicherheitsinteressen in Bezug auf den Klientelstaat hat. Für die erste Möglichkeit ist das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Saudi Arabien das klassische Beispiel, die Patronage aus Gründen der Rohstoffsicherung wollen wir in diesem Aufsatz jedoch nicht behandeln, weil sie noch anderen politischen Logiken unterliegt, welche hier zu weit führen würden. Die amerikanische Patronage in Osteuropa ist jedoch ein ebenso klares Beispiel für die andere Möglichkeit, sie dient der Schwächung Rußlands und über Bande auch der Schwächung Chinas. Wenn eine Großmacht einen Klientelstaat in einer anderen Weltregion unterstützt, um einer dort beheimateten Großmacht zu schaden, oder auch nur um die Ressourcen dieser anderen Großmacht zu binden, dann ist dieses Ziel mit einer stabilen politischen Lage in der besagten Region naturgemäß unvereinbar.
Gleichzeitig befindet sich der Klientelstaat durch seinen Pakt mit der raumfremden Schutzmacht in einer prekären Lage. Da seine Schutzmacht nun einmal kein existenzielles Interesse an ihrem Klientelstaat hat, ist sehr ungewiss, ob der Schutz auch in Zukunft anhalten wird. Die raumfremde Schutzmacht kann sich vom Standpunkt der eigenen Sicherheit aus jederzeit abwenden, ohne sich selbst zu gefährden. Gleichzeitig gerät der Klientelstaat durch das Bündnis mit der raumfremden Macht in Konflikt mit eingesessenen Mächten, welche für gewöhnlich deutlich stärker sind als der Klientelstaat und die immer noch da sein werden, wenn das Bündnis mit der raumfremden Macht längst Teil der Diplomatiegeschichte sein wird. Es besteht daher ein beständiger Anreiz für den Klientelstaat nicht bloß den Schutz zu genießen, sondern zu versuchen das gegenwärtige Bündnis aggressiv zu nutzen, um seine Sicherheitsprobleme dauerhaft zu lösen.
In der Ukraine und Polen, wo heutzutage offen über die Zerschlagung der Russischen Föderation mit amerikanischer Hilfe nachgedacht wird, sehen wir ein lehrbuchmäßiges Beispiel für dieses Phänomen. Es ist übrigens kein Zufall, daß ausgerechnet diese beiden Staaten besonders aggressiv sind. Mit 38 Millionen Einwohnern (Polen) und offiziell vor dem Krieg 41 Millionen Einwohnern (Ukraine), sind beide Länder regionale Halbstarke. Die Versuchung, mit fremder Hilfe zumindest Regionalmacht zu spielen, fällt in solchen Ländern auf eine fruchtbaren Boden, der bei den nicht weniger nationalistischen Ungarn oder Letten allein deshalb fehlt, weil diese Hoffnung dort mangels Masse absurd wäre.
In beiden Fällen handelt es sich um Staatsinteressen. Staaten sind jedoch keine monolithischen Akteure, auch wenn es zur theoretischen Analyse sinnvoll seien kann, so zu tun als ob. Zum vollen Verständnis der durch raumfremde Schutzmächte ausgelösten Instabilität ist jedoch auch der gegenseitige Einfluß zu berücksichtigen, welchen Schutzmacht und Klientelstaat auf die Politik des jeweils anderen ausüben. Diese gegenseitige Beeinflussung ist trotz aller Beteuerung staatlicher Souveränität normal.
Auf der einen Seite ist die Schutzmacht der deutlich mächtigere Partner. Von vorneherein handelt es sich also nicht um ein Bündnis auf Augenhöhe, auch wenn beide Parteien peinlichst diesen Anschein wahren. Die Schutzmacht verfügt über nicht nur über militärische, sondern auch über wirtschaftliche, geheimdienstliche, kulturelle und institutionelle (NGO’s) Machtmittel, welche denen des Klientelstaates deutlich überlegen sind und welche, anders als das Militär, zur Beeinflussung der Politik im Klientelstaat eingesetzt werden können, ohne den Anschein einer Partnerschaft zwischen souveränen Staaten zu zerstören.
Auf der anderen Seite jedoch ist das politische System der Schutzmacht für gewöhnlich nicht allein auf ihr Verhältnis zu dem besagten Klientelstaat fokussiert. Die Schutzmacht ist eine Großmacht mit weitläufigen Interessen, welche alle die begrenzten Aufmerksamkeitsressourcen des politischen Systems in Anspruch nehmen. Solange der Klientelstaat nicht gerade das Zentrum einer internationalen Krise ist, wird die ihn betreffende Politik zum allergrößten Teil nicht vom gesamten politischen System der Schutzmacht entschieden (im Falle der USA also Präsident und Kongress), sondern von spezialisierten Ministeriumsstellen und dem, was man in Washington eine „policy community“.
Das Wort policy community bezeichnet die Gemeinschaft derjenigen, die ob formell oder informell, ein bestimmtes politisches Thema beständig behandeln. Sie besteht nicht nur aus den zuständigen Abteilungen der Ministerialbürokratie, sondern auch aus Abgeordneten, Lobbyorganisationen, Thinktanks, NGO’s, Journalisten und prinzipiell allen, welche dieses Thema auch dann auf der Agenda haben, wenn es nicht im Fokus des allgemeinen politischen Systems steht. Innerhalb einer solchen policy community muß nicht dieselbe Meinung zu einem Thema herrschen, wie im allgemeineren politischen System. Allein die Tatsache, daß die policy community außerhalb der Bürokratie nun einmal aus denen besteht, welche ein besonderes Interesse an der Sache haben, trifft eine personelle Vorauslese.
Diese policy community bietet ihrerseits Angriffsfläche für Lobbyarbeit des Klientelstaates in der Hauptstadt seiner Schutzmacht. Er muß nicht das politische Gesamtsystem beeinflussen, meistens genügt die Einflußnahme auf einen relativ kleinen Teil, welcher dann seinerseits die Interessen des Klientelstaates bei den politischen Aushandlungsprozessen innerhalb der Schutzmacht durchsetzen kann, da bei solchen Aushandlungsprozessen oft nicht die einzelnen Politikpunkte für sich verhandelt, sondern ganze Pakete geschnürt werden, in denen eine Vielzahl von unterschiedlichsten Interessen miteinander in Einklang gebracht werden. Eine bestimmte Unterstützung für den Klientelstaat kann in so ein Paket prinzipiell auf die gleiche Weise hineingelangen, wie die sprichwörtliche Umgehungsstraße im Wahlkreis eines Abgeordneten.
Im schlimmsten Falle verbindet sich diese gegenseitige Beeinflussung zu einem Geflecht aus aggressiven Teileliten der Schutzmacht und aggressiven Eliten, oder auch nur Teileliten der Klientelmacht. Im schlimmsten Fall sind diese Teileliten in der Lage den Rest des politischen Systems in ihren jeweiligen Ländern vor vollendete Tatsachen zu stellen. Klassischerweise eine Konfrontation, aus der die beteiligten Staaten nicht mehr herauskönnen, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Auf diese Weise können die aggressiven Teileliten ihre Konfrontationspolitik zum rationalen Kurs des Gesamtstaates machen, den dann auch weniger konfrontationsorientierte Personen aus Staatsraison mittragen müssen. Gesellt sich hierzu noch transnationale Korruption, wie in dem komplexen Verhältnis der Vereinigten Staaten zur Ukraine, entsteht ein hochexplosives Gemisch.
Deutschland steht vor folgender Wahl: Die eine Möglichkeit besteht darin, daß man zuläßt, daß Osteuropa der Spielplatz raumfremder Mächte bleibt. Heute sind dies die Vereinigten Staaten. Morgen kann dies China sein, das nach einem Ende der amerikanischen Vorherrschaft jedes Interesse haben wird, die Russen in Osteuropa zu binden. Dann muß Deutschland aber auch, wie im jetzigen Krieg, die Konsequenzen tragen, ohne das Geschehen wirkungsvoll beeinflussen zu können.
Die einzige Alternative dazu ist eine Sicherheitsarchitektur in Osteuropa, die erstens russische Sicherheitsinteressen berücksichtigt, dabei aber zweitens den kleineren Staaten Osteuropas glaubwürdige Sicherheitsgarantien verbürgt. Gegenüber Rußland kann Deutschland glaubwürdiger auftreten, als jetzt die Vereinigten Staaten, aus dem einfachen Grunde, daß Deutschland als Anrainerstaat Osteuropas von Konflikten in dieser Region selbst betroffen ist. Es kann nicht, wie eine raumfremde Macht, Chaos schüren, ohne selbst die Konsequenzen zu tragen.
Sicherheitsgarantien gegen eine möglichen russischen Invasion kann Deutschland aber nur dann vergeben, wenn es neben einer funktionalen Rüstungsindustrie auch über eine eigene atomare Abschreckung verfügt. Hier genügte auch nicht die immer wieder ins Gespräch gebrachte Farce einer irgendwie auf Europa ausgedehnten französischen Nuklearwaffe, weil nicht ersichtlich ist, wie geteilte nukleare Abschreckung denn aussehen sollte. Über den Einsatz von Nuklearwaffen muss innerhalb von Minuten entschieden werden können, ansonsten gibt es keine nukleare Abschreckung allenfalls eine nukleare Erstschlagfähigkeit nach qualifizierter Mehrheit im Ministerrat der europäischen Union.
PS: Der naheliegendste Einwand gegen eine auf deutschen Garantien beruhende osteuropäische Sicherheitsarchitektur ist die Haltung Polens. Was für die Vorbehalte anderer osteuropäischer Staaten gegenüber einer russische Hegemonie gilt, gilt im Falle Polens ebenso gegenüber einer deutschen Hegemonie. Das ist bedauerlich, aber hier bleibt schlichtweg keine andere Möglichkeit als der geduldige Weg der Dressur. Polen darf nicht isoliert werden, dann wird es sich jedem an den Hals werfen, der ihm irgendwie Schutz verspricht. Es muß vor allem ökonomisch eingebunden werden, aber gleichzeitig muss gefährliche Träumereien von einem Intermarium, einem neuen polnisch-litauischen Großreich, der Riegel vorgeschoben werden. Das beste Mittel hierzu sind glaubwürdige und stabile Sicherheitsgarantien gegenüber den anderen osteuropäischen Staaten. In einem solchen gemeinsamen (ost-) europäischen Haus wird auch Polen einen Platz finden.