Deutschland und der Westen
„Ich bin für Preußen!“ so Otto von Bismarck auf die Frage, ob er während des Krimkrieges auf Seiten der Westmächte oder Rußlands stehe.
(Deutsche Staatlichkeit aus Sicht des Westens: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6e/Harry_R._Hopps%2C_Destroy_this_mad_brute_Enlist_-_U.S._Army%2C_03216u_edit.jpg)
Er gab damit die Antwort, die dem Staatsmann einer souveränen Nation geziemt, welche sich in anderer Staaten Händel wahre Neutralität erlauben kann. Damit ist seine Antwort unpassend für Deutschland in seiner jetzigen Lage. Die Verbindung aus zentraler geographischer Lage und dem Mangel an notwendiger Masse um Supermächte zuverlässig aus dieser geographischen Umgebung fernzuhalten, erzwingt die Beteiligung an einem Bündnis- und Sicherheitssystem und schließt Neutralität damit aus.
Zwei Fragen stehen damit im Raum:
1. Ist Deutschland ein westliches Land?
2. Soll Deutschland seine Bündnispolitik an der Antwort auf diese Frage ausrichten?
Zuerst ist festzuhalten, daß es sich dabei um zwei völlig unterschiedliche Fragen handelt, die oft durcheinander gebracht werden. Zudann gibt es zwei Wege, diese Fragen zu beantworten.
A. Den geopolitisch-strategischen Weg, der den deutschen Staat, wenn auch nur zum Zwecke des Modells, als einen Akteur reiner Sicherheits- und Wirschaftsinteressen fasst
B. Den kulturell-weltanschaulichen Weg, welcher die Nähe oder Ferne Deutschlands zu den verschiedenen Kulturkreisen und Ideologien dieses Planeten ermisst.
Frage 1 wie Frage 2 kann sowohl mittels Methode A, oder mittels Methode B beantwortet werden. Dies allein führt zu vier unterschiedlichen Herangehensweisen an Deutschlands Verhältnis zum Westen, jede wieder mit einer Vielzahl von Antwortmöglichkeiten. Daraus erwächst dieser Thematik eine beträchtliche Komplexität.
Schließlich handelt es sich nicht mehr um eine bloße intellektuelle Spielwiese, um einen bloßen Gegenstand jener Artikel und Vorträge, mit denen die Rechte während der vergangenen Epoche unbestreitbarer linker Vorherrschaft ihre Bedeutungslosigkeit betäubte. Im Gegenteil, gerade vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen rechten Nationalisten und linken Globalisten hat das Tier zugeschlagen, welches Dimitirios Kisoudis einmal als seinen Lieblingsaffen bezeichnete: Der Primat der Außenpolitik. Die mit Abstand wichtigste Frage unserer Tage ist, ob die Ausrichtung Deutschlands nach Westen oder nach Osten erfolgen soll. Selbst die Migrations- und Bevölkerungspolitik ist demgegenüber sekundär, wie kürzlich die italienische Premierministerin Giorgia Meloni bewies, als sie zeitgleich mit und, wie man annehmen muß, infolge ihrer außenpolitischen Wendung nach Westen ihre migrationskritische Politik über Bord warf.
Es ist symptomatisch, daß diese Fragen kürzlich von zwei Abgeordneten, Norbert Kleinwächter und Hans-Thomas Tillschneider, auf einem Niveau weit oberhalb der üblichen Stellungnahmen und Wahlkampfparolen erörtert wurde. Beide Texte sowie das Ausgangsvideos Kleinwächters sind hochgradig lesenswert/anschauenswert, die Positionen können hier nur kurz zusammengefasst werden:
Kleinwächter sieht Deutschland als einen aus seiner gesamten Geschichte heraus, fundamental westlichen Staat und, das ist wichtig, er identifiziert „den Westen“ mit dem abendländischen Kulturkreis, bei welchem sich die Zugehörigkeit Deutschlands zu demselben in der Tat nicht ernsthaft bestreiten lässt, gleichzeitig aber auch mit Demokratie und Rechtsstaat. Die Feindbestimmung Kleinwächters fällt auf den Postmodernismus, welcher sich von den Werten der abendländischen Moderne, die eben Demokratie und Rechtsstaat hervorbrachten, abgewandt habe. Den Postmodernismus bestimmt er, meiner Ansicht nach vollkommen richtig, als eine Gruppe von Denkrichtungen, welche die Objektivität der Wirklichkeit abstreiten, womit man, auf Kosten anderer und späterer Generationen, so tun kann, als ob die einzige Schranke der eigenen Ideologie die Macht der Propaganda sei.
Die AfD will er deshalb bewusst als moderne Partei sehen, jedes Bündnis mit modernen, aber autoritären Staaten, wie Russland oder China lehnt er jedoch ab und sieht als Partner vielmehr die Vertreter einer demokratischen, vorachtunsechziger Moderne in anderen westlichen Ländern.
Tillschneider dagegen sieht einmal die „westlichen Werte“, als ideologisches Feigenblatt zur Beschränkung der Souveränität der Nationalstaaten. Das vom „Westen“ zu unterscheidende Europa hingegen bestehe aus Romanen, Germanen und Slawen, weswegen Rußland selbstverständlich dazu gehöre. Zum anderen widerspricht er der geistesgeschichtlichen Auffassung Kleinwächters dahingehend, daß die Postmoderne Wahrheitsverleugnung seiner Ansicht nach eine Folge der Moderne sei. Konkret: Die Abschaffung des Wahrheitsverständnisses zugunsten ideologischer Beliebigkeit erlaube einen besseren Umgang mit den aus dem „Modernismus“ (ich gehe stark davon aus, daß Tillschneider hiermit den Liberalismus westlicher Prägung meint) hervorgehenden Widersprüchen, als ein strenges Festhalten an den Prinzipien der Aufklärung. Wer von „westlichen Werten“ rede, der könne damit nur eine deutschen Interessen widersprechendes Festhalten an der Nato meinen.
Daß Angehörige derselben Partei bei einer solch grundsätzlichen Thematik, solch diametral entgegengesetzte Ansichten vertreten wird nur verständlich wenn wir der oben dargelegte Vielgestaltigkeit des Themas bewusst bleiben und zudem berücksichtigen, daß die Geschichte hier einige verwickelte Wendungen genommen hat.
Beginnen wir die Entwirrung des Knäuels am Anfang. Also mit dem abendländischen Kulturkreis. Es ist immer wieder versucht worden, diesem Kulturkreis sein eigenes Wesen dadurch abzusprechen, daß man ihn auf eine Weise definiert, die ihn zur bloßen Funktion einer anderen Erscheinung werden lässt: Das Erbe der Antike, das (lateinische) Christentum, die geographische Lage in Europa, die weiße Rasse, oder eben die westliche Wertegemeinschaft. All diese sollen zu verschiedenen Zeiten gewesen sein, was das Abendland ausmacht, wonach das Abendland nicht mehr als eigenes Phänomen der Geschichte erfasst werden müsse. Ganze Bücher sind darüber geschrieben worden. Hier muß es genügen festzuhalten, daß zwischen dem 8. und dem 11. Jahrhundert derjenige Kulturkreis entstand, den man gewöhnlich als den abendländischen bezeichnet.
Was dieses Abendland alles ausmacht, das ist für unsere Frage aber gar nicht weiter von Belang. Es genügt hier zweierlei:
1. Der abendländische Kulturkreis, als zusammenhängende Kulturgemeinschaft ist seit einem Jahrtausend geschichtlich feststellbar und Rußland gehört ganz eindeutig nicht dazu. Andernfalls wäre ein Phänomen wie die Annäherung Rußlands an das Abendland unter Peter dem Großen völlig absurd. Tatsächlich muß man hier noch weiter gehen. Beim Verfassen einer abendländischen Kulturgeschichte könnte man alles östlich der deutschen Siedlungsgrenze weglassen, ohne daß eine merkliche Lücke entstünde. Dies ist der Grund, weswegen man auch heute die Osteuropäer immer als Europäer zweiter Klasse betrachtet, ein Phänomen, welches schon deshalb nicht mit dem Kalten Krieg erklärt werden kann, weil es weit älter ist als dieser. Wenn Kleinwächter sagt, daß uns ein Nachfahre abendländischer Kolonisatoren, etwa ein Texaner, kulturell näher stehe, als ein Russe, dann hat er damit recht. Man sollte nur der Vollständigkeit halber hinzufügen, daß der Texaner uns auch näher steht, als ein Ukrainer.
2. Das Abendland hat eine ganze Reihe ihm eigentümlicher Staatsformen und Rechtsvorstellungen hervorgebracht. Es mit „Demokratie und Rechtsstaat“ in Eins zu setzen ist ungefähr genauso berechtigt, wie es mit dem Dualismus von Kaiser und Papst in eins zu setzen, oder mit dem Lehenswesen, dem Absolutismus oder wenn wir schon dabei sind, mit der Verfassung der venezianischen Adelsrepublik, welche ein Jahrtausend Bestand hatte, eine viermal längere Zeitspanne, als diejenigen Staatsformen, welche wir seit zweieinhalb Jahrhunderten als westliche Demokratie zusammenfassen können.
Vertreter dieser westliche Demokratie berufen sich gerne auf das antike Griechenland. Wie unhistorisch dies ist, erweist sich schon daraus, daß die allein die Geschichte westlicher Demokratien beherrschende repräsentative Demokratie nach Auffassung der Antike nicht etwa eine fehlerhafte, sondern überhaupt keine Demokratie gewesen wäre. Als Demokratie galt den Alten nur die Regierung durch die Volksversammlung der Polis, weswegen die Römer auch ihre Republik explizit nicht als Demokratie, sondern als gemischte Staatsform ansahen.
Die westliche Demokratie entstand in England und zwar erst nach den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts. Parlamente gab es bereits davor, doch dies waren Ständeversammlungen, wie auch die Reichstage des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation welche waren. Die parlamentarische Regierungsform, (darunter fallen auch diejenigen Systeme, die von den Politikwissenschaftlern als „präsidentielle Demokratien“ bezeichnet werden) ist jedoch ein Produkt der englischen Geschichte in welcher der lange Kampf zwischen Krone und Parlament ab 1688 zunehmend unumkehrbar zugunsten des Parlamentes entschieden wurde. Dadurch erst entstand auch die erste Form dessen, was wir heute als „westliche Werte“ bezeichnen. Zunächst als Überzeugung der Engländer, daß ihre Regierungsform eine Freiheit und Gerechtigkeit gewährleiste, die anderen Regierungsformen mangele und daß England dadurch eine moralische Überlegenheit gegenüber anderen Ländern zukomme.
Es ist wichtig festzuhalten, daß dabei in England selbst kein toter Formalismus verfassungstheoretischer Ideologen am Werk war. Die englische Verfassung, die bekanntlich bis heute nicht einheitlich in einer geschriebenen Form vorliegt, ist natürlich gewachsen. Es war Hegel, der gegenüber deutschen Bewunderern des englischen Modells Anfang des 19. Jahrhunderts bemerkte, daß ihre Stärken weitgehend in denjenigen ihrer Eigenschaften lägen, welche man gemeinhin für ihre Fehler zu halten pflege. Eine Ansicht, die er mit dem amerikanischen Gründervater Alexander Hamilton teilt, der sich bisweilen über die Notwendigkeit der Korruption für die Funktionsfähigkeit einer Regierung auszulassen pflegte.
Zu der Zeit, während der sich in England im Kampf gegen die Stuarts der parlamentarische Regierungsstil herausbildete, wurde Deutschland durch ganz andere Erfahrungen geprägt. Um die „Teutsche Libertät“, worunter man damals die verbrieften Freiheitsrechte der Reichsstände meinte, vor dem Kaiser zu schützen, verheerten Schweden und Franzosen das Land. Verglichen mit dem Dreißigjährigen Krieg war die Epoche der beiden Weltkriege harmlos. Ein Drittel der Bevölkerung ging zu Grunde und anstatt eines schnellen Wirtschaftswunders dauerte der Wiederaufbau Jahrzehnte. Es sind Briefe des Großen Kurfürsten überliefert, in welchen er Jahre nach 1648 aus dem vom Krieg verschonten Königsberg Naturalabgaben in Butter eintreiben lässt. In der Mark Brandenburg war selbst für den kurfürstlichen Hof keine aufzutreiben. Mit der Teutschen Libertät als Interventionsvorwand war das Reich als politische Einheit zerschlagen worden.
Einzelstaaten, Städte und Fürstentümer gingen ihren eigenen Weg.
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