Entjuristifizierung
Ein der AfD angehöriger Jurist beschwerte sich mir gegenüber einmal über die Personaländerung beim Verfassungsschutz:
(Bild erstellt mit Midjourney)
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„Noch vor zwanzig Jahren war das Führungspersonal beim Verfassungsschutz fast ausschließlich Juristen, die hätten den Menschenwürdebegriff nicht mit der Kneifzange angefasst. Heute sind das alles Geisteswissenschaftler. Die machen aus Art. 1 Abs. 1 GG was immer ihnen gerade durch die Rübe rauscht!“
Dieser Mann dachte natürlich zuerst an das drohende Verbot seiner Partei, weil deren Volksbegriff angeblich die Menschenwürde von Nichtdeutschen herabsetze.
Es sagt natürlich einiges über eine Verfassung aus, wenn ihre erste und gleichzeitig oberste Norm: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“, von allen ernstzunehmenden Juristen gemieden wird, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.
Jeder Jurist weiß, daß die Menschenwürde zum Rechtsbegriff nicht taugt. Was soll man bitte unter einer Menschenwürde subsumieren? Wird sie als Inhalt einer Norm ernstgenommen, so öffnet sie der Willkür Tür und Tor. Als Grundnorm entkernt sie jede Verfassung. Die Beseitigung der Verfassung unter dem Vorwand ihrer Rettung, ist dann nur noch eine Frage der Interpretation.
Es ist kein Zufall, daß die juristische Menschenwürde außerhalb des Art. 1 in der politischen Strafjustiz beheimatet ist, im Volksverhetzungsparagraphen 130 StGB. Wer glaubt, daß es irgendetwas gäbe, was sich nicht mit dem Verweis auf die Menschenwürde rechtfertigen ließe, der überlege einmal, daß selbst in der zentralen Frage des menschlichen Lebens vom Abtreibungsverbot, bis zur Euthanasie jede Position mit der Menschenwürde begründbar ist.
Wer den Unterschied zwischen einer praktischen Verfassung und einer Grundgesetz gewordenen Gesinnungserklärung ermessen will, der vergleiche nur Art. 1 Grundgesetz mit dem ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, der Garantie der Glaubens- und Redefreiheit.
Die deutschen Juristen hatten also allen Grund, die Menschenwürde als Anklang an die kantianische Ethik im Hintergrund zu belassen und die Rechtspraxis auf handfestere Normen zu begründen.
Doch obwohl das Grundgesetz eine Interpretation zulässt, die die legale Aufhebung jeder Rechtsnorm im Namen der Menschenwürde ermöglicht, muß man sich hier vor gleich zwei Kurzschlüssen hüten:
Der erste ist die Idee, daß wir in einem stabilen demokratischen Staat leben würden, wenn nur die Väter des Grundgesetzes mehr Federalist Papers gelesen hätten und weniger Kant. Es ist hier freilich so wie immer, wenn die Frage nach der praktischen Wirksamkeit von Gesetzen gegenüber der politischen Macht aufkommt. Die Antwort ist weder Null noch Eins, sondern etwas dazwischen.
Einer meiner ersten Dozenten in der Politikwissenschaft liebte zu sagen: „Das Recht ist die Hure der Politik.“ Und damit hatte er recht. Nur muß man eines hinzufügen: Es liegen trotzdem Welten zwischen der maîtresse en titre und einer Bordsteinschwalbe, auch wenn beide dem horizontalen Gewerbe nachgehen.
Ein Blick auf andere westliche Staaten, mit anderen Verfassungen zeigt, daß die Entwicklung der politischen Verhältnisse in dieselbe Richtung geht. Die rechtliche Ausgangslage verändert den Weg, hält manches für eine Zeit zurück, aber nicht auf.
Der zweite Kurzschluß ist die Vorstellung, daß aus dem Art.1 GG heraus diese Verfassung automatisch ihrer Auflösung entgegengehen musste. Denn daß Gesetze von den Juristen erst durch die ungeschriebene Rechtspraxis handhabbar gemacht werden, ist so ungewöhnlich nicht. Und wenn die bundesdeutsche Justiz Jahrzehntelang mit dem Art.1 GG gut klargekommen ist, dann muß es doch einen Grund geben, warum dieser auf einmal für die abstrusesten Rechtsbeugungen herhalten muß.
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