Eskalation im komplexen Raum
Vorerst werden also keine Leoparden in die Ukraine geliefert. Pistorius, unser neuer Verteidigungsminister, wird erst einmal Panzer zählen. Olaf Scholz manövriert in einem mehrdimensionalen, komplexen Raum möglicher Eskalationen.
(Leopard 2A6: 7th Army Training Command from Grafenwoehr, Germany, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons)
Anhänger der realistischen Schule der Lehre der internationalen Beziehungen können sich auf die Schulter klopfen. Bundeskanzler Olaf Scholz demonstriert gerade, daß es sehr wohl natürliche nationale Interessen gibt, die von der Geographie und der Sicherheitslage vorgeben sind. An ihnen ändert die ideologische Ausrichtung eines Landes und seiner Eliten nur bedingt etwas. Nur aus der Position parlamentarischer oder journalistischer Verantwortungslosigkeit heraus können Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Julian Röpcke ihrer transatlantischen Neigungen freien Maulauslauf geben. Für den Bundeskanzler bleibt unabhängig jeder ideologischen Präferenz die Tatsache bestehen, daß zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten der Atlantik, zwischen Deutschland und Rußland die europäische Tiefebene liegt.
Die öffentliche Debatte um die Unterstützung der Ukraine wird derweil von unterkomplexen Eskalationsvorstellungen verstopft, die sich auf die nukleare Option versteifen. In ihrer ausgearbeitetsten Formulierung wurde diese nukleare Eskalationstheorie von John Mearsheimer vorgelegt:
Die Kurzfassung: Der Krieg in der Ukraine ist für Rußland existenziell. Wenn der Westen die Ukraine soweit aufrüstet, daß sie Rußland eine offene Niederlage beibringt, oder die NATO gar mit eigenen Truppen in den Konflikt eingreift, dann wird Rußland, bevor es sich als Großmacht ausschalten läßt, mit einem nuklearen Erstschlag reagieren. Da Rußland einen Atomkrieg ebensowenig überleben würde, wie der Westen, wird dabei von einer selbstmörderischen Irrationalität der russischen Führung ausgegangen. Im Gegensatz zu den meisten Vertretern der nuklearen Eskalationstheorie gibt Mearsheimer dies offen zu. Großmächte, die ihren Großmachtstatus akut bedroht sehen, neigten nun einmal zu irrationalen Handlungen. Diese Theorie, welche auf die Behauptung hinausläuft: „Wir müssen Putin gewinnen lassen, weil der Irre sonst den Globus in Stücke sprengt!“, wurde von Seiten der Befürworter einer weiteren Aufrüstung der Ukraine mit vollends berechtigtem Hohn übergossen.
Selbstverständlich gibt es dasselbe Argument auch längst in der anderen Richtung: Die Gefahr nuklearer Eskalation bestünde dann, wenn die Vereinigten Staaten sich in Osteuropa auf einen Krieg gegen Rußland einließen, im Vertrauen darauf, als einzige Supermacht einen solchen Krieg auch vor der russischen Haustür gewinnen zu können, und würden in der Panik nach einer konventionellen Niederlage auf den roten Knopf drücken.
Die Realität ist eine andere. Vom ersten Tag an spielte sich der Krieg in der Ukraine in einem mehrdimensionalen, komplexen Raum verschiedener Eskalationsmöglichkeiten ab.
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Ich behaupte nicht einfach, daß der Ukrainekrieg ein mehrdimensionaler, komplexer Prozess ist. Das wäre eine Banalität. Dies trifft auf jedes politische Geschehen irgendwie zu. Ich behaupte, daß seine Eskalationslogik in einem mehrdimensionalen komplexen Raum begründet ist. Das ist nicht dasselbe!
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