Kein rechter Marx
Es wird auf der Rechten nie „den großen Vordenker“ geben.
(Karl Marx: John Jabez Edwin Mayall, Public domain, via Wikimedia Commons)
Neema Parvini hat kürzlich ein Gespräch mit Praise of Folly veröffentlicht. Titel: „Trump’s Return Killed The Intellectual Dissident Right“. Der Tenor war klar, beide waren sich einig, daß die zweite Amtszeit Trumps einen Großteil der intellektuellen Anglosphäre in Grifter und Jubelperser verwandelt habe. Dies läge unter anderem daran, daß der Rechten ein vereinender großer Vordenker fehle. Jemand, der für die Rechte dasselbe sein könnte, wie Karl Marx für die Linke.
Ich möchte vorausschicken, daß ich die Tatsachenbehauptung der beiden so nicht stehen lassen kann, zumindest nicht, was den amerikanischen Internetdiskurs betrifft. Dort muß man nicht erst zu Nick Fuentes gehen, um scharfe Kritik an Trump zu hören. Von Auron MacIntyre bis Steve Bannon und natürlich Tucker Carlson ist eine ganze Reihe von alten Trumployalisten, die alle sehr viel zu verlieren haben, gut hörbar unzufrieden. Der Unmut kanalisiert sich bisher nicht in irgendeine Richtung; diese Leute sind erstmal einfach mit der Gesamtsituation unzufrieden, aber das kann sich schnell ändern. Vor allem dann, wenn der Unmut sich an der Unterstützung für oder Gegnerschaft zu einem bestimmten Kandidaten kristallisieren kann. Das muß kein Präsidentschaftskandidat – das kann ein Kandidat für den Senat, vielleicht sogar nur für das Repräsentantenhaus oder auch die Wahl für einen Gouverneursposten – sein. Ein solcher Fall zeichnet sich bereits ab. Nächstes Jahr sind die Zwischenwahlen. Dann will der Ultrazionist Lindsey Graham sich erneut für South Carolina in den Senat wählen lassen. Tucker Carlson hat Graham darüber bereits offen den Krieg erklärt und sich hinter dessen Herausforderer bei den republikanischen Vorwahlen, Paul Dans, gestellt.
Ich denke, daß Parvinis einseitige Sichtweise der rechten Landschaft in Amerika daher rührt, daß alles, was in Amerika passiert, mit ein paar Jahren Verzögerung nach Europa schwappt. Zuerst, weil da keine Sprachbarriere besteht, nach England. Dort gibt, sehr zu Parvinis Mißmut, Nigel Farage gerade den Donald Trump für Vasallenvölker.
Aber das beantwortet nicht die Frage, warum es denn eigentlich keinen rechten Karl Marx gibt. Präziser: Warum es keinen Vordenker gibt, der einmal von allen akzeptiert wird und dadurch Einigkeit schafft und dabei gleichzeitig dem gesamten Lager eine bestimmte Richtung vorgibt und damit verhindert, daß es sich in alle möglichen Richtungen verliert?
Auf der Linken hat Marx diese Position auch schon seit einigen Jahrzehnten nicht mehr inne. Aber es gab tatsächlich eine Zeit, etwa von 1900 bis 1970, in der die gesamte Linke in irgendeiner Weise auf ihn Bezug nahm. Bei allen inneren Konflikten sprach man damit immerhin eine gemeinsame Sprache: die des ökonomischen Materialismus und des Klassenkampfes.
Das ist schon einmal mehr, als man heute auf der Rechten sehen kann, wo ein traditioneller Katholik und ein Silicon-Valley-Techbro nur aneinander vorbeireden können. Also: Der Nutzen eines solchen allgemein anerkannten Vordenkers liegt auf der Hand. Warum haben wir dann keinen? Na, wer sollte es denn sein? Parvini und Praise of Folly fällt gleich ein ganzer Katalog von Namen ein: Wie wäre es mit Julius Evola? Oder Oswald Spengler? Oder mit Thomas von Aquin, für die christlicheren Leute? Oder mit Giambattista Vico, für die, die sich auch im Restaurant immer für die exotischste Auswahl auf der Speisekarte entscheiden? Oder gleich mit dem Klassiker der intellektuellen Übergötter, Georg Wilhelm Friedrich Hegel?
Dieser Kandidatenliste müßte man zum allermindesten hinzufügen: Friedrich Nietzsche, Carl Schmitt und Martin Heidegger. Aber auch Niccolò Machiavelli, Gaetano Mosca, James Burnham und Samuel Francis wurden schon einmal als intellektuelle Überväter des rechten Lagers vorgeschlagen.
Spätestens hier sehen wir, daß dies zu nichts führt – und zwar nicht, weil wir uns bei dieser reichen Auswahl nicht auf einen Kandidaten einigen könnten. Im Gegenteil: Die Tatsache, daß man eine solche Liste aufstellen kann, zeigt, daß keiner der Genannten das je ne sais quoi hat, welches Marx über drei Generationen von Linken diese ganz außergewöhnliche Autorität verliehen hat.
Denn Marx ist ein ganz einzigartiger Fall in der europäischen Geschichte. Man müßte zu Luther und Calvin zurückgehen, um einen Intellektuellen zu finden, der eine ähnliche Wirkung erzielt hat. Und selbst damit würde man sich irren. Luther und Calvin waren Intellektuelle ihrer Zeit, Theologen, aber Theologen gab es damals im Dutzend billiger. Was diese beiden von allen anderen unterschied, war nicht ihre Lehre, sondern ihre Taten. Luther ist für Protestanten eine Autorität, nicht weil seine Theologie so viel besser ist als die anderer, sondern weil er der Mann war, der auf dem Reichstag Kaiser und Papst getrotzt und damit die Bindung der Kirche an Rom gebrochen hat. Was Calvin anderen Reformatoren voraus hatte, war, daß er die Genfer Theokratie geschaffen hatte.
Damit hat, trotz oberflächlicher Ähnlichkeit, beider Autorität mehr mit der der amerikanischen Gründerväter gemein als mit der von Karl Marx. Witzigerweise ist es die amerikanische Rechte, die am ehesten einen gemeinsamen Bezugspunkt hat, auch wenn die sichtbare Krise der amerikanischen Republik an ihm nagt. Das sind die Gründerväter. Diese beziehen, der Name sagt es schon, ihre Autorität daher, daß sie die Vereinigten Staaten von Amerika begründet haben. Wenn ein Amerikaner die Federalist Papers zitiert, dann beruft er sich nicht auf die intellektuelle Überlegenheit der Autoren, sondern darauf, daß dies die Worte derjenigen sind, die einmal die Unabhängigkeit seines Landes erkämpft und den neuen Staat begründet haben.
Karl Marx hat nichts derart vorzuweisen. Seine Gegner werden ja bis heute nicht müde festzustellen, daß er in seinem Leben nichts erreicht hat, außer einige Bücher über das Kapital zu schreiben. Daß so jemand solchen Einfluß erlangen konnte, das ist in der europäischen Geschichte einzigartig, es sei denn, man zählt Jesus von Nazareth. Damit sind wir nicht so falsch. Denn Marx ist aus unserer Tradition heraus nicht zu verstehen. Nur aus seiner eigenen.
Mit einem 7-tägigen kostenlosen Probeabonnement weiterlesen
Abonnieren Sie Fragen zur Zeit, um diesen Post weiterzulesen und Sie erhalten 7 Tage kostenlosen Zugang zum gesamten Post-Archiv.


