Libertäre, der Gesellschaftsvertrag und der real existierende Liberalismus
Libertäre Twitternanons haben endlich jemanden gefunden, dem gegenüber sie einen argumentativen Stich machen können: Einen Professor der Geistesgeschichte der Universität Wuppertal: Prof. Dr. Daniel-Pascal Zorn.
(Beurkundungsseite der Verfassungsurkunde: Photo: Andreas Praefcke, Public domain, via Wikimedia Commons)
Bitte Teilen, Liken verbreiten! Es hilft diesem Blog!
Twitter: https://twitter.com/Poensgen_JK/status/1765849329355395505
Instagram:
Telegram: https://t.me/fragenzurzeit/84
Das sollte nicht zu abwertend gegenüber dem Herrn Professor Zorn klingen. Obwohl sein über alle Gesetze der Aufmerksamkeitökonomie hinwegtrampelndes Onlineverhalten, Nomen est Omen, ihn bisweilen zum Drachenlord für Intellektuelle macht, will ich gar nicht auf ihn haiden. Tatsächlich verkörpert er einen Typus an der heutigen Universität mit dem ich recht gute Erfahrungen gemacht habe: Den ehrlichen Geisteswissenschaftler. Auf seine Art eine tragische Figur. Klug, gebildet, mit einer echten Freude an der Bewegung der Gedanken, wie ein Sportler seine Freude an der Bewegung der Muskeln hat. Nur leider in eine Zeit geboren, in der man Soziopath genug sein muß, sich gegen das gesamte Establishment zu stellen, um überhaupt in politicis etwas sagen zu können, daß außerhalb der Glasperlenspiele der Seminare und Kolloquien von Bedeutung wäre. Eine bedauerliche Verschwendung feiner Köpfe durch Mangel an Asozialität. Ohne die Fairness eines Professors, der Herrn Zorn nicht so unähnlich ist, hätte ich nicht mal meinen Bachelor machen können.
Die Libertären sind hier, auch wenn sie gegenüber Zorn recht behalten haben, viel mehr die Tröpfe. Ihr armes Schicksal besteht ja darin, daß sie im Meinungsgulag unserer demokratischen Öffentlichkeit mit Rechten eingesperrt sind, die ihre individualistischen Grundannahmen nicht als Grundgesetzgegeben hinnehmen und für die sie wenig mehr als Pausenclowns sind. Doch was ist eigentlich passiert:
Es fing so idiotisch nerdig an, wie es nur möglich ist: Zorn geriet mit einigen Libertären in Streit darüber, ob denn Steuern gerechtfertigt seien und rechtfertigte das schließlich mit dem Gesellschaftsvertrag:
„Wer vor dem Hintergrund unseres Gesellschaftsvertrags Eigentum beansprucht, stimmt damit auch zu, Steuern zu zahlen. Eigentlich ganz einfach. Wer von „Steuern sind Raub“ spricht, setzt mit „Raub“ wiederum die im G.Vertrag verankerte Funktion des Strafrechts voraus.
Libertäre leben in einer Traumwelt, in der alles und alle nur für sie da sind. Recht gilt und gilt nicht, wenn es ihnen passt. Der Staat soll Eigentum schützen, ist aber ein Räuber, wenn er Steuern erhebt. Libertarismus ist einfach nur Willkür als faule Ideologie. Mehr nicht.“
In Folge wurde Herr Zorn unter dem gesammelten Autismus des Twittersturmbanns Friedrich August von Hayek begraben: „Wo haben wir denn bitte diesen Gesellschaftsvertrag unterschrieben?!?“
Das unglaublich Lustige an dieser Episode ist, daß Zorns Instinkt natürlich richtig liegt, während seine Loyalität zur BRD ihm verbietet, Grundlagen zu hinterfragen, deren logische Konsequenz der Libertarismus wäre.
Denn was ist der Gesellschaftsvertrag? Die Idee stammt bekanntlich aus der Zeit der Aufklärung und genauso bekannt ist ihr Problem: Daß die Annahme alle Menschen hätten den Gesellschaftsvertrag unterschrieben, oder auch nur, daß irgendwann in der Vergangenheit einmal einer aufgesetzt worden wäre natürlich eine Fiktion ist. Diese Schwachstelle war auch den Theoretikern des Gesellschaftsvertrages vor dreihundert Jahren schon bewusst. Um zu verstehen wie diese Theorien überhaupt entwickelt werden konnte muß man folgendes begreifen: Die damaligen Denker wollten die Gesellschaft rational erklären, sich weder mit religiösen Behauptungen, noch mit dem bloßen Verweis des Aristoteles auf die menschliche Natur abfinden, aber ihnen fehlte das gesamte begriffliche Besteck der heutigen Soziologie. Schon so vergleichsweise einfache Ideen wie die, daß gegenseitige Erwartungen ein gesellschaftliches System erzeugen und stabil halten können, lagen außerhalb des Horizontes der damaligen Zeit. Überhaupt schon mit dem Wort „System“ für eine Gesellschaft hätte man nichts anfangen können. Und von spieltheoretischen Gleichgewichtstheorien war man meilenweit entfernt.
Was das Begriffsbesteck allerdings hergab, das war eine bereits sehr weit entwickelte juristische Begrifflichkeit. Deshalb nahm die rationale Erklärung der Gesellschaft juristische Formen an. Ganz konkret die der Rechtsableitung und Rechtsübertragung in welchen das juristische Denken des Abendlandes über Jahrhunderte durch den Feudalismus geschult worden war, bei dem Herrschaftsrechte ja tatsächlich auf der Übertragung von Rechten beruhten.
Das ist eine der größten Ironien der Geistesgeschichte: Daß die Aufklärung, die nicht genug gegen den Obskurantismus der Feudalzeit wettern konnte, eine Staatslegitimation hervorgebracht hat, welches nichts weiter als die Verallgemeinerung der feudalistischen Realität auf eine erdachte Hypostase war.
Wer Hobbes, Locke oder Rousseau einmal gelesen hat weiß, daß sie nicht einfach nur behaupten: Der Gesellschaftsvertrag legitimiert die Regierung. Sondern daß sie Rechte und Befugnisse teilweise sehr ausgiebig ableiten, immer an den zwei entscheidenden juristischen Fragen orientiert: Erstens, hatte der angebliche Urheber des Rechtes dieses Recht überhaupt? (Locke zum Beispiel bejaht zwar die Todesstrafe, doch gesteht er dem Menschen kein Recht auf Selbstmord zu. Seine Herleitung der Legitimität der Todesstrafe ist dementsprechend kompliziert.) Zweitens, wurde es denn gültig übertragen?
Es gibt keinen Grund über diese Denker zu lachen, genausowenig, wie wir über Isaac Newton lachen dürften, nur weil wir inzwischen wissen, daß seine Gesetze so nicht stimmen. Doch wer heute außerhalb der Geistesgeschichte den Gesellschaftsvertrag beschwört, macht sich eigentlich genauso lächerlich, wie jemand, der Newtons Gesetze als etwas anderes, als eine im Alltag praktische Approximation behandelt. Warum also beruft sich Zorn auf dieses veraltete Konstrukt?
Kurz: Als bundesrepublikanischem Akademiker ist ihm das Volk zu biologistisch und der Staat zu dezisionistisch. Er will aber nicht von einer Autorität lassen, welche er nicht begründen kann. Oder besser gesagt, nicht begründen darf.
Mit einem 7-tägigen kostenlosen Probeabonnement weiterlesen
Abonnieren Sie Fragen zur Zeit, um diesen Post weiterzulesen und Sie erhalten 7 Tage kostenlosen Zugang zum gesamten Post-Archiv.