Fragen zur Zeit

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Metamorphosen von Links und Rechts

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Johannes Konstantin Poensgen
Aug. 21, 2025
∙ Bezahlt

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Metamorphosen von Links und Rechts
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Links und Rechts sind politische Begriffe eines Epochenwechsels von der Agrargesellschaft zu dem, was auch immer danach kommt. Die Linke war dabei zuerst da. Die Rechte entstand erst als Reaktion.

(Bild: Midjourney)

Der Streit, was eigentlich Rechts sei, ist nicht (!) so alt wie die Rechte selbst, sondern einer, der mit verstreichender Zeit an Intensität zu- und an Klarheit abgenommen hat. Zu Beginn war das ziemlich eindeutig. Rechts war für die Gesellschaftsordnung aus der Zeit vor der französischen Revolution. Rechts war für Thron und Altar. Tatsächlich hätte man diesen Begriff damals kaum selbständig verwendet. Man war Konservativer, oder im Sprachgebrauch des Gegners: Reaktionär.

Heute bezeichnen sich Leute als Rechts, und sie schreiben philosophische Traktate darüber, was dieses Rechte nun sei, ohne zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen. Der Grund dafür ist sehr simpel: Rechts ist überhaupt nichts für sich selbst. Rechts ist nicht Links. Rechts ist negativ bestimmt, und die Linke war auch schon lange vor der Rechten da. Beide aber sind das Produkt einer Übergangszeit.

Wenn wir die großen Linien unserer Epoche zeichnen, vergessen wir gerne, daß wir in einer geschichtlichen Übergangszeit leben, wie sie zum letzten Mal vor fünf Jahrtausenden stattfand. Damals entstanden die ersten Hochkulturen des Agrarzeitalters. In recht kurzer Zeit entwickelte sich – nicht der Ackerbau, der älter ist –, aber etwas, was weniger greifbar, doch ebenso bedeutsam war: die Organisation über lokale Siedlungsverbände hinaus in den ersten Reichen an Nil und Euphrat. Ermöglicht durch die Schrift und mit der Schrift durch die Verwaltung. Als die Keilschrift entschlüsselt wurde, erwarteten Romantiker, die älteste Poesie der Welt zu lesen, religiöse Sucher hofften auf die Geheimnisse aus der Entstehungszeit der Bibel. Statt dessen ruhen in den Lagerhallen der Museen einige hundert Tonnen in Ton gebrannter Lagerlisten, Rechnungen und Beschwerdebriefe. Die poetischen und religiösen Romantiker waren enttäuscht, doch diese prosaischen Relikte bezeugen viel mehr, als ein Gedicht über den Auszug Moses aus Ägypten.

Diese Rechnungen und Inventurlisten sind die materiellen Überreste einer Art, das menschliche Zusammenleben zu organisieren, die sich in ihren Grundzügen von den Tagen König Narmers bis zu denen Friedrichs des Großen nicht verändert hat: Eine breite Grundschicht an Landbevölkerung, mindestens 80 Prozent der Gesamtbevölkerung, arbeitet in der Lebensmittelproduktion. Dies macht die Großgrundbesitzer zur dominierenden Gesellschaftsklasse. Als Stand mit eigener Sitte und Kultur entwickeln sich diese Grundbesitzer zum Adel. Die Landbevölkerung erwirtschaftet einen bescheidenen landwirtschaftlichen Überschuß, der die Städte mit ihren Handwerkern ernährt. In diesen Städten lebt auch die vergleichsweise winzige Zahl der Beamten, Kaufleute und Priester, die aber unverzichtbar sind, um diese Gesellschaft, die um ein Vielfaches komplexer ist als die davorliegenden Dorf- und Stammesgemeinschaften, materiell und geistig zu organisieren, und zwar mit Hilfe der Schrift, ohne welche das alles gar nicht möglich gewesen wäre. Auch die abstrakteren Institutionen dieser Agrarepoche, wie Theologie oder Kredit, sind alle schon im Altertum nachweisbar. Wie schnell genau dieser Wandel sich damals vollzog, das ist heute aufgrund der fast nicht vorhandenen Quellenlage nicht mehr mit Sicherheit zu sagen, aber es kann sich nur um einige Generationen gehandelt haben, nicht um eine langsame Entwicklung vieler Jahrhunderte oder gar Jahrtausende, auch wenn wir in der frühesten Vergangenheit gerne mit solchen Zahlen um uns werfen. Ich halte es für nicht unwahrscheinlich, daß es Menschen gegeben hat, die als Bewohner eines Dorfes am Fluß geboren wurden und als Untertanen des Gottkönigs Horus von Oberägypten und Unterägypten starben.

Was unseren Epochenwechsel ausgelöst hat, ob es – wie Rolf Peter Sieferle schrieb – die Nutzung von Energiequellen war, die nicht an der momentanen Photosynthese auf diesem Planeten hängen, oder irgend etwas anderes, das ist eine Frage, die wir hier gar nicht zu beantworten brauchen. Fest steht nur, daß wir diesen Epochenwechsel durchleben oder, sollte sich – wie manche meinen – der technische Wandel nun wieder verlangsamen, gerade hinter uns haben.

Die politischen Richtungen Links und Rechts hängen fundamental an diesem Epochenwechsel. Sie kamen überhaupt erst auf, als die alten, über die Zeit hinweg organisch gewachsenen Gesellschaftsordnungen nicht mehr haltbar waren. Damit stellte sich die Frage: „Wie gestalten wir unsere Gesellschaft?“

Wem diese Frage sehr links erscheint, wen sie an das Geschwafel aus der Universitätspolitik erinnert, der hat recht. Diese Frage wurde nur dadurch überhaupt aufgeworfen, daß mit dem Ende der Agrargesellschaft sich auf einmal ein Raum auftat, der nicht durch Ordnungen gefüllt war, die durch lange gesellschaftliche Evolution entstanden waren. Die Aufklärer glaubten, daß endlich eine Zeit des Obskurantismus zu Ende ginge und die Menschen, die nun endlich von ihrem eigenen Verstand Gebrauch machten, nun auf einmal erkennen würden, daß es für die Herrschaft der Monarchen oder die Vorrechte des Adels keine vernünftige Begründung gäbe. Dieses Bild hat sich selbst bei den reaktionären Gegnern gehalten, die dann in diesem Gebrauch des eigenen Verstandes menschliche Hybris gegen eine ewig von Gott gesetzte Ordnung sahen. Noch im konservativen Gejammer über die Entzauberung der Welt hat sich diese reaktionäre Verfehlung gehalten. Ironischerweise gestand man damit der revolutionären Ordnung, die sich bald als liberale Ordnung saturierte, eine Gleichrangigkeit mit der traditionellen Ordnung zu, die ersterer durchaus nicht zukommt. Denn die traditionelle Ordnung war nicht das Ergebnis eines rationalistischen Gesellschaftsexperimentes, sondern das Ergebnis gesellschaftlicher Evolution, von Versuch und Irrtum über Jahrhunderte und Jahrtausende. Solange die Grundbedingungen ihrer Existenz im Agrarzeitalter bestanden, waren diese organisch entstandenen Gesellschaften jeder Reißbrettkonstruktion turmhoch überlegen. In dem Maße aber, indem die Menschheit das Agrarzeitalter verließ, wurden sie obsolet und unhaltbar.

Dadurch entstand Platz für rationalistisch erdachte Gesellschaftskonzepte. Von diesen ist das Linke, welches auf der Rechtsgleichheit aller Menschen beruht, das am einfachsten intellektuell vermittelbare. Dieses Konzept führt zur Idee des Gesellschaftsvertrages. Der Gesellschaftsvertrag geht von einer Menge gleichberechtigter Menschen aus, welche miteinander einen Vertrag schließen, welcher die Gesellschaft begründet. Daß dieser Vertragsschluß so niemals stattgefunden hat, das war natürlich schon Hobbes und Locke klar, aber der Gesellschaftsvertrag sollte gar nicht die praktische Gründung eines Staates beschreiben, wie dies das Ziel der Schriften Macchiavellis gewesen war, sondern seine ethische, eigentlich naturrechtliche Begründung liefern. Die Menschen haben nach dieser Vorstellung von Natur aus bestimmte Rechte, und auf diesen natürlichen Rechten wird dann die Gesellschaft juristisch legitimiert. Wer einmal die Vertragstheoretiker des Barock gelesen hat, der wird feststellen, daß diese auch formell juristisch argumentieren. Der Gesellschaftsvertrag und damit die Befugnisse des Staates werden durch Rechtsübertragungen begründet, deren Legalität geprüft wird, wie das heute noch jeder Jurastudent lernt. So kann etwa niemand ein Recht übertragen, welches er gar nicht erst hatte. Das führt zu Schwierigkeiten, etwa bei der Begründung der Todesstrafe, wenn man – wie Locke – das Recht auf Selbstmord ablehnt.

In irgendeiner Form sind die ethischen Begründungen aller linken Theorien Abwandlungen des Gesellschaftsvertrages. Es gibt linke Gesellschaftstheorien, welche auf eine grundsätzliche Begründung ihrer Ziele verzichten und den Wert ihrer Schlagworte einfach voraussetzen. Weil es in der Geistesgeschichte nichts gibt, was es nicht gibt, gibt es sogar linke Theorien, die explizit das Naturrecht verwerfen, dann aber auf einmal mit Menschenrechten um die Ecke kommen. Aber alle linke Gesellschaftstheorie, die versucht, ihre Ziele sauber zu begründen, beruht auf dem Gesellschaftsvertrag. Noch der „Schleier des Unwissens“ des amerikanischen Ethikers John Rawls ist ein gedankliches Hilfsmittel, mit welchem die Frage beantwortet werden soll, welcher Gesellschaftsvertrag denn nun der gerechte sei, indem er uns in die hypothetische Situation bringt, daß wir nicht wüßten, welche Position wir in der Gesellschaft einnehmen werden. Von Hobbes bis Rawls ist aber die Kernannahme all dieser Ideengebäude die Rechtsgleichheit der Menschen.

Diese Idee der Rechtsgleichheit von allem, was Menschenantlitz trägt, ist an sich nicht neu. Von der Antike über Mazdak, der im Persien des 6. Jahrhunderts die Güter- und Frauengemeinschaft predigte, bis zu den Bauernkriegen ist sie immer wieder aufgekommen. Allein das Christentum hat eine Unzahl von Sekten hervorgebracht, die die Gleichheit der Menschen predigten. Anders, als es das progressive Geschichtsbild erklärt, bedurfte es keines besonderen Fortschrittes, keiner Aufklärung, damit Menschen sich die Frage stellten: „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“ Und damals wie heute, nein, damals noch weit mehr als heute, konnte kaum jemand darauf eine rationale Antwort geben.

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