Mexican Standoff
Es gehört zum Schicksal des Schreibers, daß man manchmal in den Zufällen der Tagesmeldungen oder dem Strudel der sozialen Medien, genau die Zusammenstellung von Meldungen, Aufsätzen, Videos, oder auch nur Tweets findet, die es einem ermöglichen, einen Gedanken veröffentlichungsreif zu fassen, mit dem man sich schon lange trägt. Dann gilt es das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist, bevor die Gedanken wider zerfasern. Beginnen wir also.
(Mexican Standoff: Martin SoulStealer, CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons)
Beginnen wir mit dieser Frage, die Oliver Weber, auf Twitter gestellt hat:
„Für mich eines der großen Rätsel: Warum die allgemeine Legitimationskrise liberaler repräsentativer Demokratien so gut wie keine Kämpfe um alternative Institutionen hervorbringt.“
Ich selbst habe darauf mit einem Spenglerzitat geantwortet. Man könnte auch Francis Fukuyama bemühen und behaupten, daß die liberale, repräsentative Demokratie eben der Endpunkt der Verfassungsentwicklung der Menschheitsgeschichte darstelle. Doch ist dies eine Frage, die in ihrem Gehalt zu erfassen ist, bevor eine Beantwortung gewagt werden kann.
Die Frage beginnt mit einer Behauptung. Der Behauptung, daß eine allgemeine Legitimationskrise der liberalen repräsentativen Demokratien bestehe. Daß also eine solche Legitimationskrise erstens bestehe und zweitens, daß sie allgemein sei. Letzteres bedeutet, daß es gerade nicht so sei, wie Weber unter anderem geantwortet wurde, daß es sich bloß um den Kampf einer Seite, der Rechten, gegen die liberale, repräsentative Demokratie und ihre Verteidiger handle. Zudann werden der Demokratie hier zwei Attribute zugewiesen: „Liberal“ und „repräsentativ“.
Das sind nicht nur zwei verschiedene Eigenschaften, sie betreffen unterschiedliche Ebenen. Es ist sehr einfach zu definieren, was eine Demokratie zu einer repräsentativen Demokratie macht. Eine repräsentative Demokratie ist ein Regierungssystem in welchem Entscheidungen von gewählten Repräsentanten des Volkes getroffen werden und nicht vom Volk selbst, wie in der direkten Demokratie. Es handelt sich also um eine Struktureigenschaft des politischen Systems. Liberal hingegen ist eine Demokratie, wenn sich ihre Politik inhaltlich an der liberalen Weltanschauung orientiert. Deshalb ist es weit schwieriger genau zu sagen, was eigentlich eine liberale Demokratie ausmacht.
Was die repräsentative Demokratie anbelangt, so ist der Befund ihrer Legitimitätskrise in den Kreisen, aus denen Oliver Weber stammt, der akademischen Polittheorie, nichts neues. Schon vor 10 Jahren war es dies ein stets wiederkehrender Punkt in universitären Debattenzirkeln. Mit Begeisterung für direkte Demokratie hatte das wenig zu tun. Man mag über das politologische Curriculum schimpfen wie man will, aber der Ausbildungsstandard deutscher Universitäten genügt dafür, jedem Studenten die praktische Unmöglichkeit dieser Regierungsform in komplexen Massengesellschaften deutlich zu machen. Eine Legitimitätskrise der repräsentativen Demokratie, sahen diese Kreise vereinfacht aus zwei Gründen. Zum einen empirisch in dem damaligen Phänomen sinkender Wahlbeteiligung und allem, was man unter das Wort „Politikverdrossenheit“ fasste. Zum anderen aber, weil innerhalb der Politikwissenschaft durchaus bekannt ist, daß die real existierende Demokratie ihr Versprechen, einen wie auch immer gearteten Volkswillen irgendwie in Regierungshandeln zu übersetzen, gar nicht einlösen kann.
Daher der Bedarf an politischen Theorien, welche das für unsere Zeit magische Wort „Demokratie“, so neu definieren, daß es auf die real existierenden westlichen Staaten passt und damit als Legitimitätsquelle erhalten bleibt. Als Vater all dieser Versuche muß der amerikanische Politologe Robert Dahl (1915-2014) gelten. Er gab zu, daß in keinem westlichen Staat eine Demokratie im klassischen Sinne des Wortes vorhanden sei, wohl aber eine von ihm so genannte Polyarchie, ein pluralistisches System, in welchem die Macht nicht konzentriert ist und die verschiedenen Machtzentren und Eliten einem demokratischen Selbstverständnis unterworfen sind.
Die Flut bedruckten Papiers zu dem Thema ist endlos. Geblieben ist davon jedoch, daß das Wort Demokratie immer weniger mit einem politischen Prozess und immer mehr mit bestimmten Werten in Verbindung gebracht wird. Martin Lichtmesz hat das einmal folgendermaßen kommentiert:
„Die Eliten sagen stets: “Wir – und nur wir – sind die Demokratie”, woraus folgt, daß jeder, der sie kritisiert, zur Rede stellen oder abwählen will, zum “Demokratiefeind” erklärt werden kann. Das ist eine reichlich paradoxe Situation, die darauf beruht, daß die Gralshüter der liberalen Demokratie (also eigentlich: des Liberalismus) dem “Volkswillen” nicht über den Weg trauen (vide 1933), an ihre erzieherische Aufgabe glauben und an einem “demokratischen” Alleinvertretungsanspruch festhalten.“
Damit reduziert Lichtmesz die Frage auf die Machtfrage. Wir werden noch sehen, warum das zu kurz gegriffen ist. Er gibt aber die Werte, welche nun die Demokratie ausmachen sollen, richtigerweise mit liberal an. Womit wir wieder bei der liberalen Demokratie wären, welche Weber ebenfalls in einer Legitimationskrise sieht. Diese zweite Krise wäre erst relevant. Die „Krise der repräsentativen Demokratie“ gehört, wie wir spätestens seit Dahl und anderen Politologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wissen, grundsätzlich zu derselben, seit der Idealismus des 19. Jahrhunderts in Parteiorganisation und parlamentarischer Facharbeit versandet ist. Es hatte sich aber trotz des uneingelösten demokratischen Versprechens ein System etabliert, mit welchem die überwältigende Mehrheit recht zufrieden war.
An diesem Punkt kommen wir nicht darum herum eine Definition von Liberalismus zugrunde zu legen und hier möchte ich einen Text von Dr. Ricardo Duchesne vorstellen, der kürzlich sowohl bei Arktos als auch bei Unz veröffentlicht wurde. Er ist jedem, der des Englischen auch nur halbwegs mächtig ist, dringend anzuempfehlen. Man sollte ihn mehrmals durchlesen, weil so viel auf so kurzem Raum so präzise erfasst ist. Der Titel lautet: „Blame Liberal Pluralism for the Impending Ethnocide of Europeans“.
Duchesne fragt also nicht nach einer Krise des Liberalismus, sondern behauptet, daß dieser seinerseits für die Existenzkrise der weißen Völker verantwortlich sei. Der deutsche Leser ist erst einmal am Schmunzeln, gehört Antiliberalismus doch in weiten Teilen der deutschen Rechten seit eh und je zum guten Ton. Doch bohrt Duchesne nicht bloß tiefer, als die handelsübliche Kritik des liberalen Individualismus, oder der thatcheristischen Marktvergottung, er schneidet auch präziser und kritisiert dabei eine Reihe rechter Kritiker des Liberalismus, die Traditionalisten Dugin und de Benoist ebenso, wie reine Markt- und Individualismuskritiker, aber auch all jene, die dem heutigen, angeblich durch den Kulturmarxismus verdorbenen Liberalismus, einen älteren klassischen Liberalismus entgegen setzen:
„My way of emphasizing liberalism will be very different. While there is an intellectual current within liberalism, as we shall see below, giving special prominence to the actualization of human perfectionism through the development of the faculty of reason, the cardinal principle of modern liberalism is that every human should have equal liberty as a moral agent capable of deciding what to believe and what way of life to pursue. In other words, the central principle of this ideology is not the advocacy of any doctrine, be it rationalism, empiricism, or hedonism; it is, rather, the advocacy of a political setting within which every person is equally free to make decisions about the “good life” based on their conscience as long as they don’t seek to undermine the political setting within which this pluralism is possible.“
Deutsch: „Ich hebe gänzlich anderes am Liberalismus hervor. Zwar gibt es, wie wir sehen werden, intellektuelle Strömungen innerhalb des Liberalismus, welche besonderen Wert auf die Verwirklichung menschlicher Perfektion durch die Entwicklung der Vernunftbegabung legen, doch lautet das Kardinalprinzip des modernen Liberalismus, daß jeder Mensch gleiche Freiheit als moralisches Subjekt genießen soll, welches fähig ist zu entscheiden, was es glauben und welchen Lebensweg es verfolgen soll. In anderen Worten, das zentrale Prinzip dieser Ideologie ist nicht die Verfechtung irgendeiner Doktrin, sei es Rationalismus, Empirismus, oder Hedonismus; statt dessen ist es die Verfechtung politischer Zustände, in welchen jede Person gleichermaßen frei ist, Entscheidungen über das „Gute Leben“ zu treffen, beruhend auf ihrem eigenen Gewissen, solange sie nicht versuchet, die politischen Zustände zu unterminieren, innerhalb derer dieser Pluralismus möglich ist.“
Mit einem 7-tägigen kostenlosen Probeabonnement weiterlesen
Abonnieren Sie Fragen zur Zeit, um diesen Post weiterzulesen und Sie erhalten 7 Tage kostenlosen Zugang zum gesamten Post-Archiv.