Notizen in der Dämmerung
Die deutsche und die russische Sprache teilen eine bedeutungsschwere Ungenauigkeit. Das Wort für die Lichtverhältnisse beim Übergang zwischen Tag und Nacht, wenn es weder dunkel noch hell ist, unterscheidet nicht zwischen Morgen und Abend.
(Links: Russendämmerung Rechts: Ilia Ryvkin Quelle: Jungeuropa.de)
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Der englischen Ausdruck „from dusk ´till dawn“, lässt sich ins Deutsche nur umständlich übersetzen: „Von der Abend- bis zur Morgendämmerung.“ Vom Gehalt des Satzes, der auch an seiner Kürze hängt, geht dabei ein Teil verloren. Das russische „заря“ (sarja) hat nur zwei, statt der vier Silben der deutschen „Dämmerung“. Gemein ist ihnen aber die Ungewissheit über die Zeit. Sie beschreiben eine Zustand des Übergangs, weisen dem Übergang aber keine Richtung.
Der deutsche Titel von Ilia Ryvkins bei Jungeuropa erschienenem Buch lautet Russendämmerung. Einer guten Eingebung folgend steht auf dem Einband auch der russische Titel: русская заря (russkaja sarja).
Russendämmerung, das kann im Deutschen niemals keine Anspielung auf die Götterdämmerung der Edda sein. Die russische Übersetzung hierfür wäre гибель богов (gibel bogow), wörtlich: der Tod der Götter. So wird auch der Titel von Wagners Oper ins Russische übersetzt. In einer solchen Zusammenstellung verliert das deutsche Wort Dämmerung sofort jeden zweideutigen Charakter. Die Dämmerung ist Abenddämmerung und mehr: Der Abend ist das Ende, der Untergang, der Tod.
Die русская заря, die russische Dämmerung behält ihren zweideutigen Charakter. Ryvkins Buch ist eine Ansammlung von Notizen von der Art, wie man sie am ehesten in der Dämmerung, zwischen Tag und Nacht verfasst. Es ist eine Sammlung aus einer flüchtigen Umbruchszeit, an die man sich, wenn der Bruch in die eine oder andere Richtung einmal vollzogen sein wird, nur noch verwaschen und wahrscheinlich falsch erinnern wird.
Dazu hat Ryvkin von 2016 bis 2022 immer wieder die Übergangsgebiete und Zwischenzeiten der russischen Welt besucht. Weißrussland zur Zeit der Aufstände gegen Alexander Lukaschenko. Ein Kloster, daß sich den Coronaanordnungen der Regierung verweigerte, vor allem aber immer und immer wieder die Ostukraine und die beiden bis zur Annexion selbst in einem völkerrechtlichen Übergangszustand schwebenden, nach dem Minsker Abkommen noch nicht einmal von Russland offiziell anerkannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk.
Ryvkin wird zum Chronisten der Verworrenheit. Während die Ereignisse im Fluße sind, ist nichts so klar, sind die Fronten nicht so gerade, wie es aus dem Rückblick der Geschichte erscheint. Da ist der Starez der staatsnahen orthodoxen Kirche, welcher aus Glaubensgründen den von der Regierung angeordneten Virenschutz verweigert und mitten im 21. Jahrhundert eine neue Episode des uralten Konfliktes zwischen Weltkirche und Mönchstum aufführt. Zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion stürmen russische Polizisten ein Kloster.
Wer weiß noch, daß eine der großen Fraktionen in den Protesten gegen den weißrussischen Präsidenten Lukaschenko, allrussische Nationalisten waren, die auf die Vereinigung mit der russischen Föderation drangen und Putin zum Einmarsch gegen den Mann aufforderten, der seit dem Ukrainekrieg in Europa zu seinem einzigen Verbündeten geworden ist?
Am deutlichsten wird dieser Übergangscharakter aber in den Gebieten, in denen sich viele Menschen erst in den letzten Jahren entscheiden mussten, ob sie nun Russen oder Ukrainer sind. Bis zum 22. Februar 2022 lebten diese Menschen nicht nur zwischen zwei Staaten und zwei Nationalitäten, sondern auch zwischen Krieg und Frieden. Seit dem Maidan 2014 war geschossen worden, ohne daß es zu Krieg kam. Die älteren Soldaten kannten einander. Auf beiden Seiten gab es Veteranen aus dem sowjetischen Afghanistankrieg.
Die Verbände in den beiden Volksrepubliken waren zunächst kein wirkliches Militär, zeitweilig einfach nur die Anhänger jemandes, dem es irgendwie gelungen war einige dutzend Mann unter sich zu vereinigen. Es dauerte, bis die russische Regierung ihre eigene Verwaltungsstrukturen etablieren konnte. Nicht nur zur Freude der Menschen im Donbas, wo sich mancher an die Wildwestfreiheit gewöhnt hat, bei der man mit umgehängter Kalaschnikow ins Restaurant oder ins Kino geht.
Ryvkins Aufzeichnungen enden im November 2022, vor der Einnahme von Bachmut, das in dem Buch teilweise so, teilweise mit dem russischen Namen Artjomowsk bezeichnet wird und vor Prigoschins fehlgeschlagenem Putschversuch. Es sind Notizen in der Dämmerung und im Ungewissen, über ein Volk, das endlich aufgehört hat nur postsowjetisch zu sein, aber nicht weiß, was es jetzt eigentlich werden soll.