Regimestabilität und soziale Frage
Die „soziale Frage von Rechts“, ist fast schon in den Ruch der Lächerlichkeit geraten. Zu offensichtlich, daß in einem Land, das die Renten so oder so nicht wird bezahlen können, jede politische Richtung eben einen Bedarf an sozialpolitischen Feigenblättern hat. „Die Renten sind sicher!“ auch wenn jeder weiß, daß sie es nicht sind. Darüber könnte man zum Anarchokapitalisten werden, läge die soziale Frage nicht im Herzen politischer Stabilität und Instabilität und der wichtigsten Streitfrage heutiger Gesellschaftswissenschaft.
(Bildmontage, Peter Turchin: Peter Turchin, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons, Hintergrund erstellt mit Midjourney)
Kaum eine Diskussion über Sozialpolitik hat überhaupt einen sachlichen Inhalt. Fast immer stehen sich vorgefasste Werturteile gegenüber: Hier diejenigen, die mit dem kleinen Mann fühlen und gegen die Reichen wettern. Dort diejenigen, für die der Steuerstaat nur noch eine große Räuberbande ist, die stiehlt was der Einzelne sich rechtmäßig erarbeitet hat, um es an schmarotzende Klientelgruppen umzuverteilen.
Daß die politische Stabilität an der sozialen Frage hängt, klingt zunächst nach einer Binsenweisheit und nach dem ersten Nachdenken einfach nur falsch. Das populäre Bild von Aufständen und Revolutionen sieht verarmte Massen, die die Paläste der Reichen und Mächtigen stürmen. Der Marsch auf Versailles, oder den Sturm des Winterpalastes. Auch im Wort „Populismus“ steckt noch diese Vorstellung drinnen, auch wenn im Bild des Populismus die ungewaschen Massen der deplorables einen Anführer, einen Demagogen haben, der meistens nicht aus ihrer Schicht stammt.
Wer ein bisschen historische Bildung hat, verlacht diese Vorstellung vom Aufstand der Unterschicht. Die Hoffnung lag nie in den proles und alle Revolutionen wurden immer von Eliten gemacht. Dantons Ausspruch beim Blick über den Nationalkonvent, daß es keine Revolution gegeben hätte, wenn die dort versammelten Juristen als Anwälte erfolgreicher gewesen wären, bleibt der klassische Kommentar zu den Ursachen politischer Umbrüche.
Eine Art Kompromißansicht besagt, daß Revolutionen durch die Kombination aus unzufriedenen Massen und Gegeneliten entstehen, bei denen die Massen das Fußvolk für die Gegenelite stellen. Das trifft die Wirklichkeit schon besser. Doch in diesem Bild wirkt sich die soziale Situation der unteren Schichten nur dahingehen aus, daß Massenverelendung willige Schocktruppen bereit stellt, mit denen die Revolutionsführer dann ihre eigenen Ziele erreichen können. Nun gibt es aber eine Theorie welche besagt, daß die soziale Lage der einfachen Menschen durch wirtschaftliche und soziologische Dynamiken mit derjenigen der Eliten auf eine Weise verbunden ist, daß die Verarmung der Massen auch die Reihen der Gegeneliten anschwellen lässt. Ist diese Theorie richtig, dann ist die soziale Frage im Kern keine Frage abstrakter Gerechtigkeit, oder gar des Mitleides, sondern eine Tatsachenfrage politischer Stabilität.
Der Mann, der mehr als jeder andere zu diesem Thema gearbeitet hat, heißt Peter Turchin, ein 1957 geborener russischer Professor, der als junger Mann aus der Sowjetunion nach Amerika auswanderte und lange Jahre an der Universität von Connecticut lehrte. Ursprünglich war Turchin Biologe. Als er in den 80ern seine akademische Laufbahn begann, fing man an, komplexe System der Ökologie mathematisch zu beschreiben.
Seit langem hatten sich Biologen gefragt, wie Populationsdynamiken zustande kommen. Sobald sie begonnen hatten, die Exemplare einer bestimmten Art in einem Gebiet zu zählen, waren Biologen mit dem Phänomen konfrontiert gewesen, daß die Bevölkerungsgrößen meist weder konstant bleiben, noch daß sie zufällig fluktuieren. Stattdessen sind oft klare Muster und wiederkehrende Zyklen zu erkennen. In einem Jahr gibt es in einem Gebiet nur ganz wenige Füchse, dann steigt ihre Zahl an, um nach einer festgesetzten Zahl von Jahren zusammenzubrechen, nur damit sich das Spiel wiederholt. Wie so etwas zustande kommt, konnte man lange nicht sagen. Bis schließlich Modelle entwickelt wurden, welche es erlauben die Wechselwirkungen verschiedener Parameter in einem ökologischen System aufeinander darzustellen. Bleiben wir beim Beispiel mit den Füchsen und fügen als anderen Parameter die Bevölkerung der Hasen hinzu. Die Füchse ernähren sich von Hasen. Gibt es zu Beginn nur wenige Füchse, werden die Hasen kaum gejagt und ihre Zahl explodiert. Die Füchse, die nun eine bessere Nahrungsgrundlage haben, vermehren sich ebenfalls, bis sie die Hasen überjagen. Dabei bricht zunächst die Population der Hasen ein und danach, etwas zeitversetzt, die der Füchse. Das ist natürlich ein sehr stark vereinfachtes Beispiel. Für ein tatsächliches Modell eines Ökosystems auch nur aus Füchsen und Hasen bräuchte man die Vermehrungsraten beider Spezies und zwar nicht als feste Zahlen, sondern als Funktion auf die Anzahl der jeweils anderen Spezies. Die Angelegenheit wird schnell kompliziert.
Doch soll es hier weder um Füchse, noch um Hasen gehen, sondern um die Theorie von Peter Turchin und um das Licht, welches sie auf die soziale Frage wirft. Es stellte sich nämlich heraus, daß man diese Methode auch auf Menschen und ihre Gesellschaften anwenden kann. Turchin prägte für dieses Forschungsfeld den Namen Kliodynamik, von Klio, der griechischen Muse der Geschichte. Er begründete die nach der ägyptischen Göttin der Schrift und des Ahnenkultes benannte Seshat-Datenbank. Einer gewaltigen Sammlung geschichtlicher Daten, welche eine Bewertung und Überprüfung dynamischer Modelle im großen Stil überhaupt erst ermöglicht.
Was Turchin, und vor ihm Jack Goldstone, dabei vor allem erforscht haben, sind die nach Turchin inzwischen benannten Turchinzyklen politischer Stabilität und Instabilität. Der kurze Turchinzyklus, der „Vater-Sohn-Zyklus“ sei hier nur erwähnt er ist für unser Thema nicht weiter von Belang. Der lange Turchinzyklus hingegen wird durch die Dynamiken der Einkommensverteilung angetrieben.
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