Revolution: Definition und Begriff
Das Wort Revolution hat allgemein einen guten Anklang. Was einigermaßen verwunderlich ist, da es nichts weniger als den Sturz des jeweils herrschenden Systems beschreibt.
(Eugène Délacroix „Die Freiheit führt das Volk“ 1830 https://de.wikipedia.org/wiki/Marianne#/media/Datei:Eug%C3%A8ne_Delacroix_-_La_libert%C3%A9_guidant_le_peuple.jpg)
Vier Gründe scheinen hierfür vorherrschend zu sein. Erstens sind alle modernen Staaten auf die eine oder andere Weise Produkte der Revolution gegen die alte Ordnung der Agrargesellschaft, diejenige, die im französischen Kontext das Ancien Régime genannt wird. Eine völlig negative Bewertung dieses eigenen Ursprungs fällt den modernen Staaten auch in ihrem heutigen, arrivierten Statuts schwer. Zweitens hat die aktivistische und akademische Linke dieses Wort zu Tode geschunden. Vom Traktat bis zum Straßenkrawall wurde die revolutionäre Tat durch die Linke zum Ritual degradiert. Gipfelpunkt dieser Absurdität sind die alljährlichen Straßenschlachten am 1. Mai, die zum linken Kalender dazugehören, wie Weihnachten zum christlichen. Drittens ist das Wort Revolution oft genug im übertragenen Sinne zur Beschreibung grundsätzlicher Veränderungen verwendet worden. „Industriellen Revolution“, „digitale Revolution“ selbst eine „neolithische Revolution“ hat es gegeben. Viertens schließlich kennt die Zeitgeschichte auch die als „friedliche Revolutionen“ bezeichneten Ereignisse, zunächst den Zusammenbruch des Ostblocks, später die Kette der Farbenrevolutionen.
Seine ursprüngliche Bedeutung als gewaltsamer Umsturz eines Regierungssystems hat das Wort „Revolution“ dabei weit genug eingebüßt, daß sein Gebrauch keinen Gefängnisaufenthalt nach sich zieht, hat dabei allerdings genug von jener Bedeutung behalten, um sich den Reiz der Radikalität zu bewahren. Unter Dreißig wollen daher alle Revolutionäre sein, die kein trostloses Schicksal oder frühzeitige Vergreisung zur Jungen Union verschlagen hat.
(Antifaaufruf zu einem „Tag X“ nach der erwarteten Verurteilung von Lina E.)
Doch wie ist das, was wir als Revolution bezeichnen als soziologischer Prozess zu definieren? Erst wenn wir diese Frage klären, kommen wir aus dem sinnlosen Streit um Worte heraus, der jegliche Theorie entwertet, weil die Unklarheit des Begriffes vernebelt, was eigentlich Gegenstand der Theorie seien soll.
Wie jede Definition, ist die des Wortes Revolution willkürlich, aber begründet. Willkürlich, weil jedes beliebige Wort auf jede beliebige Weise definiert werden kann, ohne sich in interne Widersprüche zu verwickeln. Begründet, weil manche Definitionen deutlich besser als andere zur Theoriebildung geeignet sind.
Den gemeinsprachlichen Gebrauch des Wortes Revolution kann man in etwa als „Veränderung der Regierungsform deren Urheber nicht auf einen kleinen Kreis beschränkt ist“ fassen. Er ist dadurch abgegrenzt vom Putsch, auch wenn diese Differenz im praktischen Wortgebrauch häufig eine moralische Wertung ausdrückt. Eine Revolution ist oft genug bloß ein Putsch, den jemand nicht mag, und Putsch genausooft eine Revolution, die er ablehnt.
Abgesehen von diesem propagandistischen Wortmissbrauch weist der gemeinsprachliche Wortgebrauch der Revolution bereits eine wesentliche Eigenschaft zu: Dadurch daß er die Revolution vom Putsch abgrenzt, bestimmt er sie bereits als ein Phänomen, welches auf der gesellschaftlichen Ebene zu erklären ist, im Gegensatz zum Putsch, oder der Verschwörung, welche in den Bereich der Kleingruppensoziologie fallen.
Eine Revolution unterscheidet sich demnach von einem Putsch dadurch, daß in ihr ganz andere soziale Dynamiken wirken. In den 90er Jahren wurde durch den britische Anthropologe Robin Dunbar die Idee entwickelt, die unter dem Namen „Dunbars Zahl“ Berühmtheit erlangen sollte. Dunbars Zahl, bei den meisten Menschen um die 150, beziffert die Höchstzahl der Menschen, zu denen ein einzelner Mensch eine stabile soziale Beziehung aufbauen kann. Darüber hinaus verschwimmt aus Sicht des Einzelnen alles in der Masse.
Verschwörungen und Putsche werden von kleinen Gruppen getragen, deren Mitgliederstärke sich innerhalb der Dunbar Zahl bewegt. Am weitesten wird diese Grenze persönlicher Beziehungen noch strapaziert, wenn einer Militäreinheit der Befehl zur Besetzung eines Regierungsgebäudes erteilt wird, doch selbst da sprechen wir nicht über Armeen, sondern über deutlich kleinere Einheiten.
Eine Revolution findet demgegenüber innerhalb einer Gesellschaft statt, die weit über Dunbars Zahl hinausgeht. Deshalb unterscheidet sich eine Revolution von einem Putsch dadurch, daß die in ihr wirksamen Dynamiken in einem ganz anderen soziologischen Rahmen ablaufen. Welche Dynamiken das sind, ist hiermit noch nicht gesagt, aber welche Phänomene auch immer eine Untersuchung einer oder mehrerer Revolutionen zutage fördern mag, sie unterscheiden sich von denen, welche wir in einem Putsch finden werden dadurch, daß sie in einer ganz anderen Größenordnung sozialer Beziehungen wirken.
Mit der gemeinsprachlichen Bedeutung von Revolution ist also gesagt, was eine Revolution bewirkt (ein Veränderung der Regierungsform) und von wem sie bewirkt wird (einer Gruppe, die zu groß ist, um auf persönlicher Bekanntschaft zu beruhen). Es ist aber noch nicht gesagt, wie das eigentlich geschieht. Die genaue Untersuchung der Abläufe würde freilich den Rahmen einer Definition sprengen. Aber zur Definition einer Flugreise gehört nun einmal auch, daß man sich durch die Luft bewegt und nicht etwa auf dem Wasser, ohne dafür in die Aerodynamik einsteigen zu müssen.
Um zu zeigen wo das Problem liegt. Nach der gemeinsprachlichen Bedeutung kann man die Ereignisse in Frankreich nach dem Bastillesturm als Revolution klassifizieren, die Machtergreifung Napoleons am 18. Brumaire hingegen als Putsch. Soweit sinnvoll.
Dahingehend müsste man die völlig unterschiedlichen Ereignisse der Französischen Revolution und des Zusammenbruches des Ostblockes beide unter den Begriff der Revolution fassen. Dabei haben wir in einem Falle den gewaltsamen Umsturz des Staates durch Revolutionäre, die ihre Macht auf den Mob von Paris stützten, im anderen Falle den friedlichen und geordneten Übergang in das politische und vor allen Dingen wirtschaftliche System, welches sich im Kalten Krieg als leistungsfähiger herausgestellt hatte.
Ich schlage deshalb vor grundsätzlich zwischen friedlichen und gewaltsamen Systemwechseln zu unterscheiden und nur die letzteren als Revolution zu bezeichnen.
Der Grund ist dieser: Es ist eine Binsenweisheit der Soziologie, daß Gesellschaften durch gegenseitige Erwartungen zusammen gehalten und reguliert werden. Das gilt schon für ganz Grundlegendes.
Man stelle sich eine Tischgesellschaft in einer Pizzeria vor. Der Kellner bringt diese scharfen und oft auch sehr spitzen Pizzamesser. Wenn nun nicht jeder die Erwartung hätte, daß keiner den anderen damit absticht, dann müsste jeder präventiv auf seine Tischgenossen losgehen. Nur weil jeder erwartet, daß der andere friedlich beliebt und auch erwartet, daß der andere erwartet, daß er selbst friedlich bleibt, können alle friedlich belieben. (Der infinite Regress ist hier erlaubt, weil eine Verringerung des Risikos auf ein vernachlässigbares Maß genügt).
Ein ähnliches System gegenseitiger Erwartungen verhindert, daß unsere politischen Systeme und die große gesellschaftliche Ordnung ständig durch Gewalt herausgefordert werden. Wenn Vordenker fundamentaloppositioneller Gruppen die eigentlich mit der Gesamtsituation unzufrieden sind, vor der Sinnlosigkeit einer militanten Strategie warnen, dann geht es genau hierum: Weil jeder erwartet, daß jeder andere erwartet, daß keine ausreichende Masse sich einem gewaltsamen Umsturz anschließen würde, passiert es selbst unter Regierungen nicht, die bei einer signifikanten Zahl ihrer Untertanen höchst unpopulär sind. Weil jeder weiß, daß es ihm, sollte er das Gewalttabu brechen, im besten Falle erginge, wie dem Prinzen Heinrich, der gerne König von Deutschland geworden wäre.
Das bedeutet nicht, daß es keine politische Gewalt gäbe, was in nicht-revolutionären Lagen aber schlichtweg nicht existiert ist, ist eine signifikante Masse an Personen, die die staatliche Ordnung mit Gewalt anzugreifen bereit sind. Die politische Gewalt, die existiert, bewegt sich entweder im Bereich der Kriminalität, wie in Deutschland jüngst im Falle der Hammerbande, oder aber es handelt sich um ein vom bestehenden Herrschaftssystem geduldetes Phänomen, wie die Ausschreitungen nach dem Tod George Floyds in den Vereinigten Staaten.
Andersherum: Es ist diese Erwartung der Erwartung aller anderen, die überhaupt eine stabile Gesellschaft ermöglicht. Es handelt sich hier also nicht bloß um ein mentales Gefängnis, sondern auch um eine Grundfeste der Zivilisation.
Doch in einer Revolution wie der französischen, der russischen, aber auch in gescheiterten Revolutionen, wie denen von 1848, oder den Bauernkriegen geschah etwas, das umso merkwürdiger erscheint, je länger man darüber nachdenkt: Diese gegenseitige Erwartungshaltung, die normalerweise verhindert, daß, außer einigen Verwirrten, überhaupt jemand versucht, die Staatsordnung mit Gewalt anzugreifen, wird gebrochen.
In der Revolution gilt auf einmal eine Grundregel des politischen Lebens: „Wer die Staatsordnung mit Gewalt angeht, wird von ihr vereinzelt und erdrückt.“, nicht mehr. Dadurch erst entsteht das ungeheure Veränderungs- aber auch Zerstörungspotential von Revolutionen, die ja oft genug damit enden, daß alle beteiligten aufeinander losgehen wie die Pizzariagäste aus unserem Beispiel es täten, wenn sie sich der Erwartungen ihrer Sitznachbarn nicht länger sicher wären.
Ein Irrtum muß an dieser Stelle ausgeräumt werden, der auf einer merkwürdigen Abart des Fortschrittsglaubens beruht: Die Idee, daß in der Vergangenheit Umstürze eben gewaltsame Angelegenheiten gewesen wären, heute aber, „weil wir in anderen Zeiten leben“, friedliche Revolutionen denselben Platz in der soziologischen Struktur eingenommen hätten.
Erstens ist das, was man unter solchen friedlichen Revolutionen versteht uns bereits aus der alten Geschichte bekannt., nämlich von unten ausgehende, grundlegende Änderungen des Staatswesens, welche ihren politischen Erfolg nicht der direkt angewandten Gewalt auf der Straße verdanken. Der Überlieferung zufolge entstand die Ordnung der römischen Republik, die in der Formel SPQR, Senat und Volk von Rom zusammengefasst wurde, durch den Auszug der Plebejer mit welchem sich, nach der Revolte des Senatorenadels gegen Tarquinius Superbus, auch das Volk seinen Platz in der Republik erstritt.
Umgekehrt wäre der Sturm auf die Bastille ein Jahr zuvor gar nicht möglich gewesen, aber auf einmal war er das. Warum er das war, daß ist die Frage, die sich jede Erforschung von Revolutionen, die sich nicht auf die bloße Chronologie der Ereignisse beschränken soll ergründen müsste. Den Begriff der Revolution kann man jedoch definieren als: Die Durchbrechung der Gewalt als Mittel der Innenpolitik einhegenden gegenseitigen Erwartungen in der Masse.
(Jean-Pierre Houël „Sturm auf die Bastille“ 1789 https://de.wikipedia.org/wiki/Sturm_auf_die_Bastille#/media/Datei:Prise_de_la_Bastille.jpg )
Dies ist vor allem ein wissenschaftliches Anliegen. Die Beschränkung des Revolutionsbegriffs auf den gewaltsamen Umsturz lässt freilich noch eine andere Frage übrig, eine die politische Aktivisten weit direkter angeht: Was ist dann mit denjenigen Ereignisessen, welche man für gewöhnlich als „friedliche Revolutionen“ bezeichnet? Über einige Irrtümer darüber habe ich hier bereits geschrieben.
Doch hier lautet die Grundfrage folgendermaßen: Worauf beruht deren Macht grundsätzliche politische Veränderungen zu erzwingen? Auf der Angst der Herrschenden vor einer Revolution? Dann würde es sich bloß um angedrohte Revolutionen handeln. Oder sind hier andere soziale Mechanismen am Werk, solche, die nicht auf der Brechung der gegenseitigen Erwartungen politischer Friedfertigkeit beruhen?