Von Peking an den Potomac
Stellen Sie sich vor, Sie seien der neue Präsident von Sahelstan. Wohin führt Sie Ihr erster Staatsbesuch?
(Bildmontage: Fragen zur Zeit; Weißes Haus: Mathieu Landretti, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons; Große Halle des Volkes: N509FZ, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons; Präsident von Sahelstan: Midjourney)
Ins Amt gekommen sind Sie, mehr oder weniger, auf die gleiche Weise, wie alle ihre Vorgänger seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1962. Während ihre hoffentlich gut bezahlten Leibwächter Sie zum Präsidentenpalast begleiten, können Sie in den Straßen die Kollateralschäden des jüngsten friedlichen und demokratischen Machtwechsels begutachten. Selbst die Lüftungsanlage Ihrer gepanzerten Limousine kann den Gestank brennender Autoreifen nicht aus dem allgemeinen Hauptstadtmiasma von Gewürzen und Fäkalien herausfiltern.
Doch, wenn sie darüber nachdenken, eigentlich sind Machtwechsel in Sahelstan heute viel zivilisierter geworden. Als Sie ein Kind waren, hatte Ihnen ihr Onkel, der Generaladjutant des Verteidigungsministers gewesen war, vom Bürgerkrieg nach der Unabhängigkeit erzählt. Damals hatten die Milizen ihr Territorium noch mit aufgespießten Schädeln und anderen Leichenteilen markiert. Ihr Onkel ist dann, wie so viele andere, während der Wirren in den frühen 90ern verschwunden. Damals war der Kalte Krieg gerade zu Ende. Die Russen konnten keine Unterstützungsgelder mehr zahlen. Und die Amerikaner wollten nicht, da es keinen Kommunismus mehr zu bekämpfen gab. Auf einmal hatte der Präsident kein Geld mehr um all die wichtigen und halbwichtigen Leute zu bezahlen. Daß das Land daraufhin nicht zerfiel lag nur daran, daß die Entwicklungshilfezahlungen der Vereinten Nationen an der Fiktion eines international anerkannten Staates von Sahelstan hing. Die Gelder gingen an denjenigen, der in New York bei den Vereinten Nationen als Regierung akkreditiert war. Auch wenn mancher Kriegsherr in der Provinz ein Vielfaches des Territoriums der Zentralregierung beherrschte. Sahelstan war aber damals so ein unbedeutendes Land, daß eine Fiktion in New York sich am Ende gegen die Realitäten in den Provinzen des Landes durchsetzte. Ja, manches hat sich geändert.
Vor den Toren des Präsidentenpalastes salutieren zwei schneidige junge Männer in der Galauniform der Präsidentengarde. Die beiden müssen hoffen, daß kein Trupp aufgepeitschter Leute vorbeikommt, der noch einen zum Scheitern verurteilten Versuch unternimmt, die Wahl anzufechten. Denn die Gewehre der beiden Gardisten sind entladen und die Gewehrschlösser blockiert. Die einzigen Personen, die derzeit im Umkreis des Präsidentenpalastes scharfe Waffen tragen dürfen, sind die Angehörigen einer privaten Sicherheitsfirma aus dem Ausland. Während Ihre Limousine das gußeiserne Tor passiert überlegen Sie schon, wie sie sich aus dieser zu engen Umklammerung durch ihre internationalen Partner lösen und zumindest Ihre persönliche Sicherheit von eigenen Leuten absichern könnten.
Das Amtszimmer des Präsidenten ist aufgeräumt. Die Böden sind geschrubbt und ein breiter Teppich liegt vor dem Schreibtisch. Vor dem Ledersessel ist ein Mikrophon aufgebaut und darunter liegt auch schon Ihre Rede an die Nation: Sie bedanken sich für das Vertrauen in die neue Regierung, und versprechen eine zügige Aufarbeitung der Korruptionsskandale ihres Vorgängers. Die Minengesellschaft, die im Zentrum dieser Skandale stand, wird verstaatlicht. Über die Übernahme durch internationale Geldgeber laufen bereits Verhandlungen. Sie verkünden eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen. Ihre engsten Mitarbeiter haben letzte Nacht bis halb zwei über der Liste mit denjenigen gesessen, die nicht freigelassen werden. Inzwischen arbeiten sie an der Liste derjenigen, die neu zu verhaften sind. Doch das hat Zeit. Die erste Verhaftungswelle Ihrer neuen Regierung wird planmäßig erst stattfinden, nachdem die internationale Anerkennung als neue Regierung von Sahelstan abgeschlossen ist und die wichtigsten Handels- und Kreditabkommen stehen. Nicht daß sich Ihre Partner zu sehr dafür interessieren würden, aber es ist eine Sache der Höflichkeit ihnen peinliche Fragen zu ersparen.
Drei Monate werden Sie noch in der Hauptstadt bleiben, bis dahin sollte die Machtübernahme abgeschlossen und zwei, drei Leute tödlichen Unfällen zum Opfer gefallen sein. Nichts dramatisches, wie gesagt. Sahelstan ist in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich zivilisierter geworden. Beim Blick aus dem Fenster des Präsidentenpalastes sehen sie neben den Slums die neue Skyline der Hauptstadt. Keiner der Wolkenkratzer ist älter als sieben Jahre. Errichtet wurden sie von chinesischen Baufirmen, welche auch die Finanzierung organisiert haben. Der einzige Tiefwasserhafen von Sahelstan ist seitdem auf 99 Jahre an die Volksrepublik verpachtet und Sie sind nicht so wahnsinnig, daß Sie an diesem Geschäft Ihres Vorgängers rütteln würden, auch wenn Sie selbstverständlich mit seiner vollkommen korrupten Amtsführung abrechnen werden. Die von den Baufirmen mitgebrachten Vertragsarbeiter leben in einer Containersiedlung außerhalb der Hauptstadt. Das vermeidet Zwischenfälle die vorgekommen waren, wenn ein Chinese zu deutlich seine Ansichten über Arbeitsmoral, Intelligenz und Körpergeruch der einheimischen Sahelstanis kundgetan hatte.
Trotz aller kulturellen Differenzen: Peking wird die erste Station auf Ihrer Antrittsreise, als neugebackener Präsident von Sahelstan sein. Denn ein durchtrennter Bremsschlauch kann einige Probleme lösen, aber nicht alle.
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