China und Amerika – Realistische Szenarien
Daß China und die Vereinigten Staaten die beiden mit Abstand größten Mächte der gegenwärtigen Weltpolitik sind, daran gibt es hoffentlich keinen Zweifel.
(Bild erstellt mit Midjouerney)
Rußland hat es unter seiner derzeitigen Führung geschafft, deutlich über der eigenen Gewichtsklasse zu boxen und es hat den Bonus seines gewaltigen Rohstoffreichtums, der ein Stück weit darüber hinweghilft, daß es mit nur 144 Millionen Einwohnern eine deutlich niedrigere Bevölkerungszahl aufweist, als die Vereinigten Staaten mit 334 Millionen oder gar China mit 1,4 Milliarden Einwohnern. In der Ukraine hat sich gezeigt, daß die russische Rüstungspolitik in den vergangenen zwanzig Jahren weitgehend die richtigen, die westliche Rüstungspolitik weitgehend die falschen Prioritäten gesetzt hat und dies gibt Rußland zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen weiteren Vorteil. Aber verglichen mit strukturellen Eigenschaften von Bevölkerung und Geographie sind solche Vorteile durch klügere Regierungsführung flüchtig. Solange der Westen nicht intern kollabiert, wird er rüstungspolitisch seine Lehren ziehen und dann fällt das demographische und ökonomische Übergewicht wieder voll in die Waagschale. Das droht in den nächsten zehn Jahren das große Problem Rußlands zu werden und Rußland in die chinesische Abhängigkeit zu treiben, doch konzentrieren wir uns hier auf die beiden großen Rivalen der Weltpolitik.
Ich bin kein Sinologe und das hier soll keine vollständige Untersuchung der Volksrepublik, ihrer Wirtschaft, oder ihrer Streitkräfte sein. Und ich will auch nicht dasselbe für die Vereinigten Staaten liefern, obwohl ich dort zumindest den Vorteil habe, daß ich die Landessprache verstehe.
Ich will realistische Szenarien erstellen, einen Blick darauf, wie die Welt heute schon aussieht und wie sie morgen aussehen kann. Obwohl im Folgenden viel davon die Rede seien wird was für Kapazitäten bei der einen oder anderen Macht vorhanden sind, folgt dieser Text der via negativa. Es geht um den Ausschluß abwegiger Deutungen von Gegenwart und Zukunft und die Reduktion auf diejenigen die in der beobachtbaren Wirklichkeit verankert sind.
Um die Kernthese vorwegzunehmen: Die heutige Weltordnung zeigt klar bipolare Züge auf mit den beiden Supermächten China und den Vereinigten Staaten als Polen, mit Rußland als ein Richtung China lehnender Halbstarker. Diese Weltordnung kann sich zu einer unipolar sinozentrischen Weltordnung weiterentwickeln sie kann aber auch bei einer bipolaren Ordnung verbleiben, bei der dann aber die Vereinigten Staaten der deutlich schwächere Pol wären. Eine solche Form der bipolaren Ordnung ist nicht neu, wir hatten sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in welchem die Sowjetunion auch niemals an die Machtfülle der Vereinigten Staaten herankam.
Träumereien von einer multipolaren Weltordnung haben hingegen nichts mit der Realität zu tun. Dasselbe gilt aber auch für den Glauben an die Ewigkeit amerikanischer Vorherrschaft in einem unendlichen unipolaren Moment.
Der natürliche Feind aller Fortschreibungen der Gegenwartsentwicklung in die Zukunft sind außergewöhnliche Extremereignisse. Nassim Talebs schwarze Schwäne. Sollten China und die Vereinigten Staaten einander in einem nuklearen Schlagabtausch ins Nirvana sprengen, dann wäre vermutlich eine multipolare Weltordnung die Folge. Aber von explodierenden Megatonnen abgesehen: Nehmen wir einmal den Fall eines neuen chinesischen Bürgerkrieges. In Washington ginge innerhalb von Stunden der Champagner aus, doch was dann? Nach zwei, fünf, vielleicht auch erst zehn Jahren wäre dieser Bürgerkrieg zu Ende. Wenn dann ein halbwegs geeintes China unter irgendeiner Führung dasteht, die keine Wahnsinnspolitik verfolgt, wie zuletzt die Kommunisten unter Mao, dann wird auch dieses China sehr rasch wieder eine der ersten Mächte der Welt sein. Schlichtweg aufgrund der Masse und Qualität seiner Bevölkerung.
Also fassen wir die Gegebenheiten nüchtern in den Blick anstatt uns in wilden Spekulationen über mögliche Ereignisse zu verlieren.
Eine multipolare Ordnung würde ein Nebeneinander von vier oder fünf etwa gleichstarken Mächten voraussetzen, wie es in Europa seit dem Ende der Stauferherrschaft der Fall war. Als Schlagwort wird „Multipolare Weltordnung“ außer von europäischen Traumtänzern auch von der politischen Führung in Moskau und Peking gebraucht. In Moskau teilweise in der vagen Hoffnung auf langfristige Unabhängigkeit vom großen gelben Bruder, in Peking hingegen auf dieselbe Art in der einst Woodrow Wilson und Franklin Roosevelt vom Selbstbestimmungsrecht der Völker sprachen: Im Vollbewusstsein der Tatsache, daß man selbst eindeutig die größte Macht der Welt ist und sich die Illusion der Gleichberechtigung leisten kann.
Etwas weiter müssen wir uns hier mit der Gegenthese beschäftigen, die vor allem Martin Sellner in letzter Zeit Stark gemacht hat, nämlich daß die Vereinigten Staaten auf sehr weit absehbare Zeit die einzige globale Supermacht bleiben werden. Ich will das hier im Rahmen struktureller Argumentation halten und nicht in das Gotchaspiel von Bierbankgenerälen absinken.
Das heißt nicht nur, daß wir nicht diskutieren werden, ob die F-35 nun besser ist als die J-20 oder umgekehrt, sondern auch, daß wir Wunderwaffen überhaupt außen vorlassen werden. Nicht weil es sie prinzipiell nicht gäbe, sondern weil niemand vor Kriegsausbruch weiß, daß es Wunderwaffen sind. Bis 1941 investierten alle Seemächte in Schlachtschiffe, anstatt in Träger mit Torpedobombern. Im Ramadan-, oder Jom-Kippur-Krieg 1973 schossen Araber mit sowjetischen Luftabwehrsystemen 1021 westliche Kampfflugzeuge derselben israelischen Luftwaffe vom Himmel, die 1967 den Sechstagekrieg in der namensgebenden Kürze für sich entschieden hatte. Die US-Führung selbst befürchtete 1991, daß Operation Desert Storm zehntausende an Toten kosten würde und dann kam die Koalition dank Präzisionsbombardements und Panzern mit Nachtsichtgeräten mit 392 Toten und 776 Verwundeten davon2. Wunderwaffen kommen aufgrund der Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung vor, aber ihre Effektivität ist immer an einen sehr bestimmten Kontext von Technologie und Militärdoktrin gebunden, mit dem dieses neue Waffensystem interagiert. Das ist nicht vorhersehbar. Auch wenn kindische Diskussionen über die überwältigende Effektivität unerprobter Waffensysteme bei weitem nicht nur in den unseriösen Teilen des Internets geführt werden, sondern solche Wunderwaffen seit über zwei Jahren von unseriösen Politikern unter dem Namen “Game Changer” als Alternative zu einer tatsächlichen Kriegsindustrie verkauft werden. Was allerdings passieren kann ist, daß eine verzweifelte Führung ihre Hoffnung auf vermeintliche Wunderwaffen als Rettung aus einer ausweglosen Lage setzt. Das ist zur Zeit tatsächlich eine Möglichkeit weil die Führung der Vereinigten Staaten zu begreifen beginnt, daß sie die Volksrepublik China in einem friedlichen Machtkampf weder einhegen, noch niederringen kann.
Daß die Vereinigten Staaten das Ziel, einzige Weltmacht zu bleiben auf friedlichem Wege nicht erreichen können, lehrt ein einfacher Blick auf die Zahlen. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds, schwerlich eines chinesischen Propagandainstruments, standen im Jahr 2022 um die Kaufkraftparität bereinigt der 30 Billionen Dollar schweren chinesischen Wirtschaft nur eine 25 Billionen Dollar schwere amerikanische Wirtschaft gegenüber. Dritter war in dieser Rechnung Indien mit nur 11 Billionen, eine Zahl, die viel Kuhdung beinhaltet und danach kamen Japan mit 6,1 Billionen, Deutschland mit 5,3 Billionen und Rußland mit 4,7 Billionen. Soviel zur multipolaren Weltordnung.
Die chinesische Wirtschaft ist also bereits offiziell 20% größer, als die amerikanische. Dabei steht aber etwas außen vor, das man immer beachten muß, wenn man chinesische und westliche Statistiken vergleicht. Das chinesische Statistikamt rechnet oft anders. Im Falle des Bruttoinlandsproduktes berücksichtigt es den Dienstleistungssektor viel weniger, als seine Gegenstücke im Westen. Im Westen wird, den amerikanischen Vorgaben folgend, so viel wie möglich in das Bruttoinlandsprodukt aufgenommen. Die Vorreiter sind da die Briten, die selbst Schätzwerte über illegale Transaktionen für Prostitution und Rauschgifthandel aufnehmen, aber alle westlichen Länder verrechnen Dienstleistungen, selbst wenn sie wie Anwalts- und Verwaltungskosten keinen konsumierbaren Mehrwert erzeugen ins Bruttoinlandsprodukt. Die chinesische Statistik orientiert sich viel weitergehend an der materiellen Produktion.
Deswegen müssen wir auf das chinesische Bruttoinlandsprodukt noch einmal eine Dunkelziffer draufschlagen, wenn wir es mit westlichen Angaben vergleichen wollen. Die reale chinesische Wirtschaft wird irgendetwas zwischen dem 1,5 bis 2-fachen der amerikanischen betragen.3 Um ein Verhältnis für diese Zahlen zu bekommen: Vielleicht muß man auf das chinesische BIP noch einmal Deutschland draufschlagen, vielleicht aber auch Japan, Deutschland und Rußland zusammen.
Für die Zukunftsaussichten gibt es aber eine einfache Annäherung für das wirtschaftliche Potenzial Chinas:
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