Die Macht macht gar nichts
Mein heutiger Stein des Anstoßes ist das Eindringen einer bestimmten Art schlechter Metaphysik in die Wissenschaft von der Politik.
(Max Weber: Ernst Gottmann, Public domain, via Wikimedia Commons; Academic Agent)
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Es gibt einen Hang im politischen Denken, welcher die Macht als metaphysische Kraft hinter den Dingen auffasst. Man erkennt diese immer daran, wenn davon gesprochen wird daß die „Macht“ dies oder jenes mache.
Die Macht macht gar nichts.
Menschen machen Dinge. Daß sie Dinge machen können, dies bezeichnet man als Macht. Es gibt wenige Sätze der politischen Theorie, die man auswendig lernen muß, einer davon ist der erste Satz von §16 im erste Kapitel von Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ auch eigenständig unter dem Titel „Soziologische Grundbegriffe“ veröffentlicht:
„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“
Macht ist hier also die Angabe einer Wahrscheinlichkeit für bestimmte Ergebnisse innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. Die Vorstellung ist zwar sehr simpel, eigentlich nur eine Zahl zwischen Null und Eins, aber eben abstrakt. Macht ist nichts, was man anfassen könnte. Für den Menschen, der nun einmal in Dingen und Personen denkt, besteht deshalb immer der Hang dazu, Macht entweder zu objektifizieren, oder zu personalisieren.
Gerade innerhalb der Denkrichtungen, welche den modernen Staat als eine manageriale Organisation untersuchen, einem Ansatz, von dem ich sehr viel halte und den ich auf Fragen zur Zeit einmal ausgiebig behandelt habe, gibt es zur gegenwärtigen Zeit einen Hang in diese Richtung. Das gefährliche dabei ist, daß dieser Hang sich als harter, nüchterner Realismus ausgibt, während er die tatsächlichen Verhältnisse hinter einer Nebelwand aus Phrasen verbirgt.
Einer der Vordenker dieser Richtung, der Mann der unter dem Pseudonym Academic Agent schreibt, hat im November vergangenen Jahres die Quintessenz seines Denkens in einer Sammlung von 59 Thesen veröffentlicht von denen die ersten 20 unter der Überschrift „Über Macht“ stehen. These Nummer Eins liefert seine Definition:
„Macht wird durch die Frage definiert, ‚wer herrscht’.
Nun, vielleicht sollte man auch den zweiten Satz des §16 aus Webers oben genanntem Buch auswendig lernen:
„Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden; Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden.“
Eine Chance zu haben, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen gehorsam zu finden ist, kann einem die Chance geben seinen Willen in einer sozialen Beziehung gegen Widerstreben durchzusetzen. Herrschaft ist also in der weberschen Begrifflichkeit einer der möglichen Gründe auf denen Macht beruhen kann. Nicht aber der einzige Grund. Disziplin wiederum ist dann eine Unterform der Herrschaft, diejenige, die man in etablierten Befehlsstrukturen findet.
Nicht alle Macht beruht auf Herrschaft und nicht jede Herrschaft ist Disziplin. Nebenbei sei festgestellt, daß bei der weberschen Herrschaft weder der Adressat, noch der Inhalt des Befehls gleichgültig sind. Weber verstand zweierlei: Erstens, daß Herrschaft immer eine Herrschaft über bestimmte Menschen ist, zweitens, daß Herrschaft immer an Formen gebunden ist, welche die Menge der Befehle, für welche der Herrscher gehorsam erwarten kann, beschränkt. Diese Grenzen, die in jedem politischen System auf die eine oder andere Weise der Herrschaft gesetzt sind, sind keine legalen Fiktionen, sondern ganz reale Beschränkungen der Macht des Herrschers.
Daß Macht nicht dadurch definiert werden kann, wer herrscht, wird schon dadurch deutlich, daß in diesem Falle ja niemand Macht haben könnte, der gerade nicht herrscht. Der Herrscher hätte ein Machtmonopol. Die Absurdität der Folgerung, zeigt die Absurdität einer Definition, auf welcher kein sinnvolles politisches Denken aufgebaut werden kann.
Die Schlußfolgerung wäre zwingend, ist aber so absurd, daß niemand sie ernsthaft zieht. Die Fehler und Denkfaulheiten, welche durch eine Auffassung von Macht als Sache oder Person, anstatt als Eigenschaft einer sozialen Beziehung entstehen, sind viel subtiler. Sie führen aber alle dazu, daß die komplexen Wechselwirkungen in der Gesellschaft von der Hypostasierung der „Macht“, überblendet werden.
Ein wunderbares Beispiel ist Academic Agents Auffassung von Ideologie. In: „Against Ideology“ vertritt er die These, daß alle Ideologie der sogenannten Machtformel folge. Damit behauptet er nicht, daß alle Ideologien inhaltlich gleich seien. Er behauptet aber, daß sie alle dieselbe Struktur haben. Diese Struktur sei: “Bullshit, Bullshit, Bullshit, Bullshit, deshalb sollten wir an der Macht sein.” Eine Umformulierung für den Alltagsgebrauch sei: "Bullshit, Bullshit, Bullshit, Bullshit, deshalb war unsere Entscheidung richtig.”
Academic Agent vertritt die These, daß Ideologien nur die rationalisierenden Rechtfertigung von Herrschaft, sowie von Entscheidungen sind, die eigentlich aus irrationalen Gründen getroffen werden. Vilfredo Pareto, auf den sich Academic Agent hierfür beruft, sah das deutlich differenzierter. Er hat die hier vorhandene Problematik für so gewichtig gehalten, daß er versuchte, eine ganz eigene psychologische Fachsprache aus Begriffen wie „Residuen“ und „Derivaten“ zu entwickeln, deren Zweck darin bestand die komplexen Verhältnisse angemessen auszudrücken.
In einem ganz wesentlichen Punkte hat Academic Agent aber recht, nämlich dem, daß eine herrschende Ideologie, deshalb herrschende Ideologie ist, weil sie die Ideologie der Herrschenden ist.
Ich will den entscheidenden Punkt, den er hier nur anreißt ausbauen, also einen Stahlmann im Gegensatz zu einem Strohmann seiner Position aufbauen: Daß Problem jeder Geschichtsforschung, welche die Ideen zur Triebkraft der Geschichte erhebt ist, daß sie einem Survivorship-Bias unterliegt. Es werden ständig unzählige Gedanken gedacht und viele, manche sagen zu viele, werden auch in der ein oder anderen Form veröffentlicht. Diejenigen Ideen, welche dann eine herrschende Ideologie bilden, sind die wenigen, welche von der gerade herrschenden Elite als Ideologie angenommen werden. Die Gründe für die Übernahme bestimmter und die Verwerfung anderer Ideologien durch die herrschende Elite können vielfältig sein. Es muss weder die Richtigkeit der Idee, noch ihre Überzeugungskraft in einem hypothetischen herrschaftsfreien Diskurs sein. Wie bei allem, was einem Prozess von zufälliger Mutation und deutlich weniger zufälliger Selektion unterliegt, greift die evolutionäre Tautologie: Etwas hat sich durchgesetzt, weil es diejenigen Eigenschaften hatte, welche in der gegebenen Situation dazu befähigten sich durchzusetzen. Welche Ideen eine bestimmte Elite übernommen hat, kann uns zwar viel über diese Elite verraten, doch das besagt nicht, daß diese Ideen die besagte Elite oder deren Herrschaftsverhältnisse geschaffen haben.
Eine weitere Konsequenz, die Academic Agent anspricht ist, daß die wirkliche, die historisch relevante Form einer Ideologie, diejenige ist, die sie annimmt, nachdem sie herrschende Ideologie geworden ist. Schlichtweg, weil eine nichtherrschende Ideologie zu großen fremden Einflüssen und Zwängen ausgesetzt ist. Die herrschende Ideologie hingegen forme ihre Umgebung.
Dieser Punkt scheint ein Selbstwiderspruch zu sein. Auf einmal formt die herrschende Ideologie doch ihre Umgebung. Doch Academic Agent behauptet nicht, daß der Inhalt des Bullshits völlig belanglos sei, nur deutlich weniger wichtig, als Anhänger wie Gegner meinen.
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