Die Richtung des Rechtsdenkens
Juristisches Denken führt aus seiner eigenen Logik zur immer größeren Organisation. Vom Lokalen ins Nationale, vom Nationalen ins Supernationale. Die historische Gegenbewegung entspringt außerjuristischer Friktion und antijuristischer Obstruktion.
(Lady Justice on Old Bailey, London: Lonpicman, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
Der Anlaß hierzu ist eine Reihe von Einwänden, die Juristen gegen die Auffassung geäußert haben, ein europäisches Land könne seine Einwanderungsprobleme selbst auf nationaler Ebene lösen. Diese Einwände sind rein juristischer Natur. Sie haben nichts mit der logistischen Frage des Grenzschutzes zu tun. Sie zielen nicht darauf hinaus, daß ein gemeinsamer europäischer Grenzschutz effizienter wäre als die Kontrolle an der je eigenen nationalen Grenze. Ebensowenig zielen diese Einwände auf die internationale Machtpolitik, also darauf, daß ein einzelner europäischer Staat, der in der Einwanderungspolitik von der liberal-westlichen Linie abweicht, von außen unter Druck gesetzt werden wird und daher eine europäische Selbstbehauptung durch Zusammenschluß die Grundlage für eine Bekämpfung des Migrationsproblems wäre.
Beide Argumente werden ja andernorts erhoben, und beide verdienen es, für sich geprüft zu werden. Doch das ist für ein andermal. Der juristische Einwand ist jedenfalls ein anderer. Er lautet darauf, daß die Einwanderungspolitik bereits europäisiert wurde und deshalb eine andere Einwanderungspolitik nur auf europäischer Ebene erreicht werden könne. Wer behaupte, eine nationale Einwanderungspolitik betreiben zu können, verkaufe populistisches Schlangenöl, mache Versprechen, die er nie einhalten könne.
Es gibt an diesem Einwand nun eine oberflächliche Kritik, die falsch ist, sich aber dennoch unmittelbar aufdrängt und deshalb verdient, behandelt zu werden: Sie besagt, daß hier ja das Problem überhaupt erst juristisch konstruiert würde. Wenn man die Einwanderungspolitik als Kompetenzfeld europäisiert hätte, dann könne man sie genauso gut wieder auf die nationale Ebene zurückholen. Beides sei schließlich nur eine Frage der Zuständigkeitsverteilung in den Verträgen zur Europäischen Union. Im Zweifel könne man sich das als souveräner Staat auch so zurückholen.
Warum das zu kurz gedacht ist, hat vor allem Gerhard Vierfuß1 aufgezeigt, der Anwalt, der Martin Sellner für dessen Remigrationskonzept beraten hat. Die Europäisierung der Einwanderungspolitik darf man sich nicht so vorstellen, daß irgendwo im Vertrag von Maastricht oder von Lissabon drinsteht: „Die Einwanderungspolitik wird von der Europäischen Union geregelt.“ Im Gegenteil: Was wir die Europäisierung der Einwanderungspolitik nennen, ist ein ganzes Myzel an unterschiedlichen Vertragsbestimmungen, die teilweise, wie die Europäische Menschenrechtskonvention oder die Genfer Flüchtlingskonvention, außerhalb der eigentlichen EU-Verträge stehen. Dann gibt es die Menschenrechtsgarantien im Grundgesetz selbst. Dazu kommt die Verzahnung vieler europäischer Migrationsregularien mit der innereuropäischen Freizügigkeit und dem Binnenmarkt.
Aber es gibt nicht nur dieses Geflecht materiellen Rechts, welches ein Ende der Asyleinwanderung verhindert, sondern auch im formellen Recht ein Geflecht an Zuständigkeiten. Die wichtigsten, der Europäische Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, sind gar nicht in Deutschland ansässig. Da Deutschland Mitglied der Europäischen Union ist, stehen Europarecht und Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes grundsätzlich über jedem nationalen Recht.
Es gibt also keinen einfachen, präzisen Austritt, keine Abschaffung eines bestimmten Gesetzes, noch nicht einmal eine Änderung des Grundgesetzes, welche dann die Ausschaffung von Asylbewerbern erlauben würde. Solange dieses Myzel an Bestimmungen und Zuständigkeiten intakt ist, wird die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet bleiben, jedem Asylbewerber ein Verfahren zu gewähren, das ihn in der Rechtspraxis auf unbestimmte Zeit im Lande bleiben läßt. Wenn schon, so müßte Deutschland nicht nur aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern auch aus der Europäischen Union austreten, und auch wenn einige mit diesem Dexitgedanken spielen, dürfte es allein aufgrund unserer wirtschaftlichen Verflechtung mit dem europäischen Ausland politisch undurchsetzbar sein, von der folgenden geopolitischen Isolation ganz zu schweigen.
In der Folge argumentieren Vierfuß und eine ganze Reihe anderer rechter Juristen für eine europäische Lösung. Konkret etwa solle die AfD die dänisch-italienische Initiative zur Reform der Europäischen Menschenrechtskonvention unterstützen. Nun, gegen letzteren Vorschlag ist nichts einzuwenden. Man könnte sich allenfalls dagegen aussprechen, wenn dies auf eine weitere Verlagerung nationaler Kompetenzen auf die europäische Ebene hinauslaufen sollte. Danach sieht es aber derzeit in keinster Weise aus.
Es ist aber kein Zufall, daß es die Juristen sind, die so denken und argumentieren. Daß es die Juristen sind, die sich eine Lösung der Einwanderungsfrage nur auf europäischer Ebene vorstellen können. In der juristischen Debatte über die Masseneinwanderung zeigt sich die Richtung des Rechtsdenkens. Diese Richtung verläuft vom kleineren Verband zum größeren. Oder genauer: sie schiebt Zuständigkeiten auf die jeweils umfassendere Ebene. Man könnte auch sagen, das Rechtsdenken ist seinem Wesen nach antisubsidiär.
Den meisten dürfte der Vorrang des europäischen Rechtes vor dem nationalen Recht der Einzelstaaten in der Europäischen Union bekannt sein. Manche kritisieren dies ja deswegen, weil dieser Vorrang in keinem Vertrag festgelegt wurde, sondern der Europäische Gerichtshof ihn einfach erklärt hat. Allerdings handelt es sich hier nicht um einen Putsch des Gerichtes gegen die Souveränität der europäischen Nationalstaaten. Wenn dies so wäre, dann hätten wir diesen Grundkonflikt mit immer derselben Lösung nicht in jeder Art von Staatenunion. In der Bundesrepublik Deutschland bricht bekanntlich Bundesrecht Landesrecht. Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist ein einziges Lehrbeispiel dafür, wie entgegen der besten föderalen Vorsätze die Zuständigkeiten immer weiter zentralisiert werden. Grundsätzlich gilt: Ein gemeinsamer Rechtsraum zentralisiert. Warum?
Das liegt daran, daß Hans Kelsens Doktrin, wonach das Recht als System von Normen zu begreifen sei, welche widerspruchsfrei aufeinander Bezug nehmen2, zwar sachlich offenkundiger Unfug ist, aber als Fiktion die Grundlage der Alltagsarbeit jedes Juristen ist. Der Jurist muß so tun, als ob. Denn wenn er das nicht täte, dann könnten zwei gleichermaßen berechtigte Ansprüche aufeinanderprallen, und damit wäre kein Urteil mehr möglich. Natürlich, auch in einem kelsenianischen System können einander ausschließende Ansprüche bestehen. Das kommt bei jedem Bankrott vor, da hier die Summe der Ansprüche aller Gläubiger nun einmal nicht aus der Konkursmasse zu bezahlen ist, sonst wäre ja kein Bankrott gegeben. Aber der urteilende Richter muß hier zumindest so tun, als schriebe das Gesetz vor, welcher Anspruch vor welchem anderen Anspruch den Vorrang habe. Ansonsten müßte er nämlich mehreren Parteien dasselbe Gut zusprechen und damit ein Urteil fällen, das sich selbst widerspricht.
Aus diesem Grund führt ein gemeinsamer Rechtsraum wie die Europäische Union dazu, daß die Juristen aufkommende Widersprüche zwischen Normen durch den Vorrang des Rechtes der umfassenderen Einheit auflösen. Auch das folgt der kelsenianischen Logik. Kelsen war sich ja durchaus bewußt, daß gleichzeitig zwei Normen in Umlauf sein können, die einander widersprechen. Er versuchte dieses Problem durch eine Hierarchisierung der Normen zu lösen, in der die höhere Norm die niedrigere Norm im Konfliktfalle aufhebt. Wenn im innereuropäischen Rechtsstreit das deutsche Recht das eine, das italienische Recht etwas anderes sagt, dann bleibt eben nur die Berufung auf europäisches Recht, will man die Rechtsgemeinschaft nicht ganz aufkündigen.
Soweit die juristische Logik. Und dieser Vorbehalt ist entscheidend. Das hier ist die rein juristische Logik einer „reinen Rechtslehre“. Man könnte sich von hier aus die Frage stellen, warum wir dann noch nicht in einem Weltstaat angekommen sind. Das ist keine rhetorische Frage. Die Juristen, die sich die Charta der Vereinten Nationen ausgedacht haben, wollten zum guten Teil genau das, und es gibt bis heute eine nicht unerhebliche Anzahl an Doktrinären des UN-Völkerrechtes, die genau so etwas einfordern.
Die Gründe dafür sind intuitiv jedem klar. Sie sauber zu erfassen ist sehr viel schwieriger. Denn es handelt sich hier nicht um einen, sondern um tausend Gründe. Es ist nicht so, daß allein der Freiheitswille der Völker den Weltstaat verhindert, sonst hätte es niemals einen Vielvölkerstaat gegeben. Es liegt auch nicht allein an den Sonderinteressen der Elitenstrukturen in den Einzelstaaten, sonst hätten sich niemals, wie 1776 oder 1871, mehrere Staaten zu einem zusammengeschlossen. Wenn man diese tausend Gründe zusammenfassen will, dann bleibt nur das Wort Friktionen, im Plural, und in derselben Bedeutung, in der Carl von Clausewitz dieses Wort in seiner Theorie des Krieges verwendet: Als Menge all der Gründe, die verhindern, daß es in der Wirklichkeit so abläuft wie in der Theorie. Friktion ist einfach das lateinische Wort für Reibung, und wie Reibung sorgt solche Friktion für eine Verminderung der Effizienz gegenüber dem theoretischen Wert.
Das ist jedenfalls in den meisten Fällen so. Es sei gesagt, daß es in sozialen Systemen prinzipiell auch etwas geben kann, das wir als Antifriktion bezeichnen könnten: also in der theoretischen Planung nicht berücksichtigte effizienzsteigernde Faktoren. Das liegt daran, daß soziale Systeme aus selbständig handlungsfähigen Akteuren bestehen. Um bei einem militärischen Beispiel zu bleiben: Während des Afghanistankrieges hatte das Bundeswehrbeschaffungsamt keine ausreichende Anzahl an Zielfernrohren bereitgestellt. In einem damals berühmt gewordenen Fall bestellte sich ein Soldat daraufhin ein entsprechendes Spektiv für 89,90€ bei Tschibo. Das war Antifriktion gegen die Friktionen im Bundeswehrbeschaffungsamt.
Was wir an diesem Beispiel aber sehen, ist, daß Antifriktion im Kleinen viel wahrscheinlicher ist als im Großen. Es wird sich eher ein einzelner Soldat fehlende Ausrüstung privat kaufen, als daß zum Beispiel die Unteroffiziere des Standortes eine Sammelbestellung organisieren.
Damit sind wir schon nahe an dem Grund, weswegen gesellschaftliche Friktionen der juristischen Tendenz zum Universalstaat entgegenwirken. Da ich nicht frei von Eitelkeit bin, will ich diesen Grund fürderhin als das Poensgensche Gesetz der gesellschaftlichen Friktion bezeichnet haben:
Satz: Unterscheiden sich zwei Organisationen nur in der Anzahl ihrer Mitglieder, dann gibt es in der größeren Organisation mehr Friktionen pro Mitglied3, als in der kleineren.
Beweis:
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