Disruption Reichelt
Für die rechte Gegenöffentlichkeit verschieben sich die Grundlagen. Wir sind in einer Disruptionsphase, wie zuletzt vor einem Jahrzehnt. Mit dem Reichelt-Komplex ist der Rechtszionismus in der Pole-Position.
(Julian Reichelt: © Superbass / CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)
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Audiotext: Disruption Reichelt
Für die rechte Gegenöffentlichkeit verschieben sich die Grundlagen. Wir sind in einer Disruptionsphase, wie zuletzt vor einem Jahrzehnt. Mit dem Reichelt-Komplex ist der Rechtszionismus in der Pole-Position.
Vor knapp einem halben Jahr1 schrieb ich über die Gefahr, daß die Rechte aufgekauft wird. Daß diejenigen Akteure der Rechten, die diese über die vergangenen anderthalb Jahrzehnte aufgebaut haben, von solchen abgelöst werden, die jetzt mit deutlich mehr Kapital einsteigen. Strukturell ergibt sich diese Gefahr aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Gesetz der Skalenerträge. Skalenertrag nennt man es, wenn der Preis pro Einheit mit der Anzahl der produzierten Einheiten sinkt. Das kommt daher, daß bei einem höheren Absatz andere, kapitalintensivere, aber effizientere Produktionsmethoden rentabel werden, die größere Investitionen erfordern, aber bei ausreichender Stückzahl geringere Stückkosten verursachen.
Das ist wichtig zu verstehen: Es geht vor allem um effizientere Produktionsmethoden. Skalenerträge sind kein kosmischer Rabatt, den das Universum einem erläßt, wenn man mehr von demselben kauft. Bis zu einem gewissen Grad können Fixkosten auf mehr Produkte umgelegt werden, aber die wirklich großen Preissenkungen kommen daher, daß der Produktionsprozeß bei größeren Stückzahlen anders abläuft. Würden in einem Markt eine Million handgefertigter Schuhe abgesetzt, so wäre der Stückpreis nicht sonderlich anders, als wenn es nur Hunderttausend wären. Die Fixkosten wären ähnlich. Die Automatisierung der Produktion lohnt sich bei einer Million aber in ganz anderem Ausmaß als bei Hunderttausend. Das heißt auch, daß die ideale Produktionsmethode für ein bestimmtes Produkt von der Größe des Absatzmarktes abhängt. Für jede Produktionsmethode selbst gibt es eine ideale Größe für ein Unternehmen, auf der sie am effizientesten umgesetzt werden kann. Da die Unternehmen miteinander in Konkurrenz stehen, werden solche, die von ihrer Größe her der effizientesten Größe entsprechen, diejenigen verdrängen, die entweder zu groß oder zu klein sind. Das führt dazu, daß es in jedem Markt eine bestimmte Anzahl an Unternehmen gibt. Diese Zahl ist die Abnahme des Marktes geteilt durch die optimale Effizienzgröße in produzierten Einheiten.
Lange Rede, kurzer Sinn: Weil bei einem größeren Absatzmarkt die optimale Größe der Unternehmen steigt, passiert bei schnell wachsenden Märkten oft zweierlei:
Obwohl der Markt wächst, schrumpft die Anzahl der Unternehmen, die der Markt trägt. Das passiert deshalb, weil die optimale Größe für Unternehmen schneller wächst als der Markt.
Die neuen Produktionsmethoden erfordern deutlich mehr Kapital als die alten. Die alteingesessenen Produzenten haben Schwierigkeiten, dieses Kapital aufzubringen. Dadurch werden sie anfällig für den Markteintritt neuer Konkurrenten, die über dieses Kapital verfügen und die vorher gar nicht in der Lage gewesen wären, nicht nur nicht interessiert, sondern gar nicht in der Lage, auf diesem Markt effizient zu operieren, weil er zu klein für sie gewesen wäre.
Beides zusammen bewirkt etwas, was wir vor allem aus Märkten kennen, die durch neue Technologien umgekrempelt werden: Obwohl der Markt drastisch wächst, müssen viele der ursprünglichen Produzenten aufgeben, und die Sieger sind am Ende oft genug Unternehmen, die mit entsprechender Finanzierung erst später eingestiegen sind. Den ehemaligen Platzhirschen aus der Zeit, als der Markt noch kleiner war, bleibt oft nichts anderes, als an diese neuen Konkurrenten zu verkaufen, bevor sie im Preiskampf zerrieben werden. Das ist einer der Gründe, aus denen so viele Start-up-Gründer dann an Google, Microsoft oder Apple verkaufen – nicht, weil sie keine weiteren Ambitionen mehr hätten, sondern weil sie wissen, daß die Riesen sich diesen neuen Markt sowieso unter den Nagel reißen werden. Auf ähnliche Weise ging die mit viel Fördergeldern aufgebaute deutsche Solarindustrie Anfang der 2010er Jahre zugrunde. Die Chinesen haben an jede Produktionsziffer einfach noch eine Null drangehängt.
Das funktioniert auch bei politischen Märkten. Wenn die Nachfrage nach einer politischen Richtung – und damit ist nicht nur eine Partei gemeint, sondern auch das ganze mediale Drumherum, das Vorfeld – wächst, dann verändert sich die Struktur dieser politischen Richtung, sie wird nicht einfach nur größer. Bei weitem nicht jeder Akteur, der in kleineren Zusammenhängen gut arbeiten konnte, ist in der Lage, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen. Es entsteht eine Phase dessen, was man im Silicon Valley Disruption nennt, in der alte Akteure verschwinden und neue auftauchen.
Die Rechte in Deutschland hatte die letzte solche disruptive Phase Anfang der 2010er. Der Höhepunkt waren nur wenige Jahre: 2012 bis 2015. Nicht nur die AfD entstand in dieser Zeit, auch die Identitäre Bewegung, Pegida, Ein Prozent. Andere Akteure, die davor ein kaum beachtetes Nischendasein gefristet hatten, wie der Antaios-Verlag, das Institut für Staatspolitik oder die Junge Freiheit, erhielten fast über Nacht eine Bedeutung, die sie davor nicht ansatzweise besessen hatten.
Fast über Nacht – das meint hier einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren –, aber die Veränderung war schnell und plötzlich und vor allem: Die Strukturen, die da entstanden, sind diejenigen, die in den nächsten Jahren die Rechte bestimmt haben. Bezeichnenderweise hat selbst die Corona-Zeit mit ihren Massenprotesten nichts daran geändert. Es war eine disruptive Zeit, und zwar deswegen, weil damals erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik rechts der Union eine politische Nachfrage nach fundamentaler Kritik an der bestehenden Richtung entstand, die sowohl eine relevante Größe erreichte als auch nicht in das bestehende System integrierbar war.
Auch ein Bernd Lucke, so liberal er war, konnte von der real existierenden bundesdeutschen Demokratie nicht akzeptiert werden, weil er den europäischen Einigungsprozeß infrage stellte und damit eines der Themen, die aus der Eigenlogik dieses Systems der demokratischen Entscheidung entzogen sein müssen. (Wenn Kritik am Euro und der Schuldenvergemeinschaftung normalisiert würde, dann fiele eher früher als später die EU auseinander. Die damalige Position Luckes mag den allermeisten heutigen Rechten viel zu kurz greifen, aber auch ihn konnte dieses System aus Selbsterhaltungstrieb nicht tolerieren.)
Heute sind wir wieder in einer disruptiven Zeit. Was sich diesmal geändert hat, ist, daß die bisher unintegrierbare Rechte so groß geworden ist, daß sie in das politische System integriert werden muß. Das ist in allen westlichen Ländern auf die eine oder andere Weise so – auch wenn sich in einigen, darunter auch Deutschland, das Establishment noch mit Händen und Füßen wehrt. Der Preis für die Brandmauer ist Unregierbarkeit. Diesen Preis kann kein System auf Dauer bezahlen.
Entscheidend ist nun dies: Die Nachfrage nach rechter Vorfeldarbeit, vor allem Medienarbeit, steigt damit weit über das Maß der zugewonnenen Wählerstimmen hinaus. Der wahre wirtschaftliche Abnehmer gerade von Medien ist ja nicht der Medienkonsument – dessen Beeinflussung ist ja gerade die Ware. Der wahre Abnehmer ist derjenige, der Medienarbeit, die sich so gut wie niemals selbst trägt, finanziert. Das waren in der post-2015er-Rechten immer noch fast ausschließlich Leute, die aus persönlichem Idealismus den Geldbeutel geöffnet haben. Zu gewinnen gab es für diese Spender und Unterstützer erst einmal nichts. Das ist heute anders, weil die Rechte auf einmal politische Macht in Aussicht hat oder in manchen Ländern schon an der Regierung ist. Nun lohnt sich die Investition in rechte Politik auf einmal für Leute, die politische Ergebnisse wollen, nicht bloß irgendeine Richtung fördern, weil sie ihnen persönlich am Herzen liegt.
Wohin dieser Prozeß führt, das kann man in den Vereinigten Staaten gut beobachten, die in dieser Hinsicht wie immer dem restlichen Westen um fünf Jahre voraus sind.
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