Im Einwanderungskasino
Die Einwanderung ist für ihre Gegner ein Spiel mit negativem Erwartungswert. Deshalb sind so viele Strategien zu ihrer Bekämpfung falsch. Die Lösungen sind kontraintuitiv.
(Bildmontage: Fragen zur Zeit: Roulettrad: Cccc789, CC0, via Wikimedia Commons)
Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem trashigen Horrorfilm. Der Schurke, etwa jemand wie auf dem Titelbild dieses Aufsatzes, sperrt Sie ein und zwingt Sie, an seinem Rouletttisch zu spielen. Um Ihr gesamtes Vermögen. Wenn Sie verlieren, bleibt Ihnen kein Hemd. Er wäre aber kein wahnsinniger Schurke aus einem Trashfilm, wenn er Ihnen nicht wenigstens eine kleine Chance ließe: Wenn es Ihnen gelingt, die Bank zu sprengen, dann dürfen Sie gehen und sogar Ihren Gewinn behalten.
Was sollten Sie tun? Was wäre eine rationale Strategie?
Die Situation ist unserer derzeitigen Einwanderungspolitik nicht ganz unähnlich. Manchmal, nur manchmal, sorgt der YouTube-Algorithmus noch für Überraschungen. Normalerweise zeigt er einem ja nur die Slop-Versionen der Themen an, für die man sich sowieso interessiert. Die Zeit, als der Algorithmus einem noch regelmäßig Neues vorschlug, ist lange vorbei.
Es muß aber wohl daran gelegen haben, daß ich mir irgendwas Wissenschaftliches angesehen hatte, aber vor kurzem spülte er mir ein Video eines Accounts namens „Weird Math“ über die Mathematik hinter Glücksspielen in die Auswahl1. Daß ich nichts Besseres zu tun gehabt hätte, wäre eine Lüge, aber ich schaute mir das an und begann zu verstehen, warum die Migrationsdebatte nicht nur in der Gesamtgesellschaft, sondern sogar innerhalb der Migrationsgegner so vergiftet ist.
Unterschiedliche Auffassungen nicht über die Höhe, sondern über die Struktur eines Risikos führen zu diametral entgegengesetzten Strategieansätzen. Und wenn man die Struktur, nicht die Höhe des Risikos, falsch einschätzt, dann schlagen die Vertreter strukturell identischer Fehlstrategien aufeinander ein.
Jeder, der ein Kasino betritt, weiß, daß das Haus einen Vorteil hat. Beim amerikanischen Roulette liegen die Chancen etwa 52,6 zu 47,4 zugunsten des Hauses. Das bedeutet, im Roulette verliert man durchschnittlich mit jeder Runde 5,2 Prozent seines Einsatzes. Oder anders ausgedrückt: Der durchschnittliche Gewinn beträgt in jeder Runde –5,2 Prozent. Das macht Roulette zu einem sogenannten Spiel mit negativem Erwartungswert. Diese Tatsache, daß der Erwartungswert negativ ist, gibt dem Risiko beim Roulette bestimmte Struktureigenschaften, die unabhängig von den genauen Wettchancen sind. Das französische Roulette etwa hat einen günstigeren Erwartungswert von nur –2,7 Prozent. Das scheint ein gewaltiger Unterschied zu sein. Der Vorteil des Hauses ist nur etwas mehr als halb so groß wie der beim amerikanischen Roulette. Aber beides sind Spiele mit negativem Erwartungswert, und das bedeutet: Mit beiden wird man auf lange Sicht sein Geld verlieren, beim französischen Roulette braucht man dafür nur etwas länger. Es würde uns sehr merkwürdig vorkommen, sollte ein französischer Roulettespieler einem amerikanischen Roulettespieler dessen unverantwortliche Spielsucht vorwerfen.
Aber genau das sehen wir in der Einwanderungsdebatte: Vertreter verschiedener Strategien mit negativem Erwartungswert beschimpfen einander und streiten sich darüber, wessen negativer Erwartungswert der am wenigsten negative ist. Warum aber haben die meisten Strategien zum Umgang mit der Masseneinwanderung einen negativen Erwartungswert? Das heißt: wenn man den ethnischen Austausch seines Landes verhindern möchte.
Nun, es liegt an der Grundstruktur der Einwanderungspolitik, die ich das magische Dreieck der Migrationspolitik2 genannt habe: Demokratie, Rechtsstaat und Nationalstaat passen unter Bedingungen, die Massenmigration ermöglichen, nicht zusammen. Es besteht ein unauflösbarer Zielkonflikt. Das liegt daran, daß in einer Demokratie auch die Befürworter von Einwanderung Wahlen gewinnen können. Tun sie das, dann holen sie Einwanderer ins Land. Diese Einwanderer erhalten subjektive Aufenthaltsrechte, und von der Duldung bis zur Staatsbürgerschaft haben all diese Aufenthaltsrechte gemeinsam, daß sie unter den Bedingungen des Rechtsstaates deutlich schwieriger wieder zu entziehen als zu verleihen sind. Das heißt: Bei dem Spiel demokratische Politik spielt man nicht um Migration oder Remigration, sondern um mehr oder weniger Migration. Das Äußerste, was die Einwanderungsgegner hier erreichen können, ist ein Migrationsstopp auf Zeit, also keine neue Migration, aber nicht Remigration.
Es ist also noch nicht einmal Roulette. Denn beim Roulette kann man gewinnen und das Kasino dann mit dem Gewinn verlassen. Es ist eher so, als ob man folgendes Spiel spielte: Wir werfen eine Münze, und bei Kopf müssen Sie mir 10 Euro geben. Bei Zahl haben Sie Glück und müssen mir nichts geben. Niemand würde dieses Spiel spielen. Aber wir könnten es ja etwas anders gestalten: Nehmen wir ein Rouletterad, und statt des herkömmlichen Roulettespiels zahlen Sie mir den Betrag, auf den die Kugel fällt, in Euro aus. Beim französischen Roulette hätten Sie immerhin eine Chance von 1 zu 37, daß Sie mir gar nichts zahlen müssen. Aber auch wenn die Kugel auf 10 landet, dann wäre das doch immer noch besser als 28 oder gar 36, oder? Wir können das Ganze sogar noch interaktiver gestalten. Während die Kugel fliegt, dürfen Sie in die Schale pusten. Ehe Sie sich versehen, hängen Sie atemlos über dem Tisch. Aber wenn Sie die Kugel nicht zuverlässig auf Null blasen, dann ändert sich an der Struktur des Spieles nichts. Der Erwartungswert ist immer noch negativ. Aber Sie haben auf einmal das Gefühl, Ihr Schicksal selbst in der Hand zu haben.
In der Einwanderungspolitik macht die Demokratie etwas ganz Ähnliches.
Sie verbirgt unter der politischen Partizipation, die ja auch unter den gegenwärtigen Umständen immer noch fast jedem gewährt wird, die Spielstruktur der Einwanderungspolitik, die so beschaffen ist, daß unterm Strich immer mehr Migranten ins Land kommen, nur manchmal mehr und manchmal weniger. Diese Struktureigenschaft ist – ich kann das nur wiederholen – von politischen Strategien unabhängig, solange diese nichts daran ändern, daß der Erwartungswert des Spieles negativ ist, das heißt in diesem Falle, daß man immer nur darum kämpft, wie viele unterm Strich in einem Jahr neu reinkommen, und daß man allenfalls einmal als großen Jackpot eine Abschiebung von Illegalen bekommt. Doch um so unsinniger das Strategieren, um so heftiger der Streit um die richtige Strategie.
Interessanterweise finden sich genau solche Strategiedebatten auch unter Glücksspielern. Sie beruhen, hier wie dort, auf einer Verkennung der Struktur des Spiels.
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