Ohne Proporz keine Demokratie
Parteienproporz wird verachtet, aber ohne ihn gibt es keine Demokratie. Seine Abschaffung durch die Kartellparteien macht demokratische Machtwechsel unmöglich. Mit der Abschaffung des Proporzes endet die Demokratie. Das muß man sich klar machen.
(Bild: Sitzungssaal eines Bundestagsausschusses)
Der Parteienproporz gilt als eines der größten Übel der Demokratie. Nicht nur der sprichwörtliche oder tatsächliche Stammtisch schimpft darüber. Kritiker von Links, aber vor allem von Rechts, haben Berge von Papier über diese Kaperung des Staates produziert, der von den Parteien zur Beute gemacht wird.
Das hat seinen Grund. Die Parteiseilschaften werden zu Flaschenzügen für Legionen von Pöstchenjägern. Nur ist der Proporz gleichzeitig unerläßlich für eine funktionierende Demokratie. Warum? Weil der Parteienproporz die Parteien zur Zusammenarbeit zwingt. Du mußt mit meinen Leuten klarkommen, ich muß mit deinen Leuten klarkommen, egal, wer gerade an der Regierung ist.
Jede Staatsform, eine Demokratie aber ganz besonders, braucht Institutionen, um Konflikte zwischen den verschiedenen politischen Lagern konstruktiv auszutragen. Diese Institutionen müssen zweierlei gewährleisten: Sie müssen alle politischen Lager einbeziehen und zwar in ungefährer Relation zu ihrer Stärke außerhalb der jeweiligen Institution. Wäre eine Partei in einer Institution deutlich schwächer vertreten, als es ihrer Stärke außerhalb der Institution entspricht, dann hätte sie ja keinen Grund, die Institution mitzutragen. Für eine Institution, die Konflikte bereinigen soll, ist das das Todesurteil. Gleichzeitig aber darf der Entscheidungsmechanismus die Institution nicht lahmlegen oder zur Geisel des größten Querkopfes machen.
Das wichtigste Steuerungsverfahren in Demokratien, die Abstimmung im Parlament, hat dabei den Fehler, daß sie nur binäre Entscheidungen ermöglicht. Entweder der Antrag erhält das notwendige Quorum, sei dieses nun 51 Prozent, 66 Prozent oder irgendein anderer Anteil der Stimmen, der eben festgesetzt ist, oder der Antrag erhält dieses Quorum nicht eben nicht. Es gibt eine ganze formalisierte Theorie, die sich mit Abstimmungsmacht in Gremien befaßt.1 Die Details würden hier viel zu weit führen. Was aber für unser Thema wichtig ist, ist, daß Abstimmungen immer an demjenigen hängen, der eine Koalition über die Mehrheitshürde bringt. Deshalb gibt jedes Abstimmungsverfahren, egal welches, demjenigen in einer Koalition die meiste Macht, der das geringste Interesse an dem zur Abstimmung stehenden Thema hat, aber mit seiner Stimme die Koalition über die vorgegebene Mehrheitshürde bringt. Er kann von den anderen Mitgliedern seiner Koalition einen Preis für seine Stimme verlangen. Gleichzeitig erhalten alle, die nicht Mitglieder der Mehrheitskoalition sind, gar nichts.
Wenn oft gesagt wird, daß Demokratie der Versuch sei, den Bürgerkrieg durch eine Abstimmung zu ersetzen, dann kann man leicht ersehen, warum die Abstimmung für sich die Gewalt gar nicht ersetzen kann. Sie ist notwendig, weil jedes politische System auch eine Methode braucht, um bindende Entscheidungen zu treffen, wenn keine Einigkeit herrscht. Das leistet die Abstimmung, in der die Mehrheit diktiert. Daneben bedarf es aber einer Reihe anderer Institutionen, die alle relevanten Kräfte einbinden. Diese Institutionen meinen Politikwissenschaftler, wenn sie von Konsensdemokratie sprechen.2
Zu diesen Institutionen zählen Gerichte, Ausschüsse in Parlamenten, aber auch eine Vielzahl obskurerer Gremien, wie die Rundfunkräte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Diese Institutionen sind klein genug und auch, anders als das Parlamentsplenum mit seiner strengen Tagesordnung, informell genug, daß eine abgewogenere Verständigung zwischen den Parteien möglich ist als der Holzhammer der formellen Abstimmung. In einem Ausschuß kann man sich darüber verständigen, wie ein Gesetz beschaffen sein muß, damit die jetzige Opposition es nicht sofort wieder kassiert, sobald sie an der Regierung ist. Ein Richter an einem Gericht entscheidet am liebsten im Konsens mit seinen Kollegen, selbst dann, wenn er diese überstimmen könnte. Und bei einem Rundfunkrat wird am Ende jeder etwas von seinen Inhalten ins Programm bekommen, auch wenn der eine mehr durchsetzen kann und der andere weniger. Diese konsensdemokratischen Institutionen sind deshalb notwendig, weil sie mehr kennen als das Null oder Eins einer Parlamentsabstimmung, in der man entweder eine Mehrheit zusammenbekommt oder eben nicht.
Damit diese Institutionen allerdings funktionieren, ist der Parteienproporz völlig unverzichtbar. Sie einfach nach dem Mehrheitsprinzip zu besetzen, liefe dem ganzen Sinn dieser Institutionen zuwider. Sie sollen ja gerade diejenigen einbinden und ihnen ein Interesse am Erhalt des gemeinsamen Systems geben, die nicht Teil der Mehrheitskoalition sind. Vorgeschrieben wird der Proporz manchmal von formellen, oft aber von informellen Regeln. Eine der häufigsten Regelungen ist diejenige, daß eine Partei das Vorschlagsrecht für Kandidaten hat, dann aber eine Mehrheit erforderlich ist, um den Kandidaten auch tatsächlich zu wählen, der Brauch aber vorschreibt, daß diese Wahl zu erfolgen hat, wenn nicht sehr gewichtige Gründe dagegen sprechen. Eine solche Übereinkunft lässt sich gar nicht vollständig rechtlich festschreiben, wie wir kürzlich gesehen haben. Das Bundesverfassungsgericht hat 2022 geurteilt, daß die AfD keinen uneingeschränkten Anspruch auf einen Vizepräsidenten im Bundestag hat. Da das Bundesverfassungsgericht dem einzelnen Abgeordneten nicht vorschreiben kann, wie er abzustimmen hat und somit eine Mehrheit für einen AfD-Kandidaten gar nicht anordnen kann, hätte dieses auch Urteil nur auf eine einzige Weise anders ausfallen können:
Mit einem 7-tägigen kostenlosen Probeabonnement weiterlesen
Abonnieren Sie Fragen zur Zeit, um diesen Post weiterzulesen und Sie erhalten 7 Tage kostenlosen Zugang zum gesamten Post-Archiv.