Statistik des Todes, statistische Tötung
Über die Todesstrafe im multikulturellen, multikriminellen Managerialismus.
(Giftspritzenliege: Ken Piorkowski, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons)
Was auf dem Video der Ermordung Iryna Zarutskas zu sehen ist, ist schwer zu ertragen. Und ich halte mich für einen der abgebrühteren Zeitgenossen, was das anbelangt. Warum ausgerechnet dieser Mord eine Wirkung hatte, die Zehntausend vor ihm nicht hatten? Das wissen nur die Götter des Algorithmus. Doch wir wissen, warum dieser Mord eine solche Wirkung haben konnte: weil er für Zehntausend andere steht.
Leben für Leben zu nehmen scheint angesichts dieser sinnlosen Brutalität das einzig Richtige zu sein. Wenn man dann erfährt, daß der Täter 14mal verhaftet wurde, fünf Jahre wegen Raubüberfalls im Gefängnis gesessen hat, dann stellt sich selbstverständlich die Frage, ob das nicht früher hätte gelöst werden können.
Mir dreht sich bei dem Gedanken daran, die Bürokratie den Tod eines Menschen beschließen zu lassen, der Magen um. Und auch wenn Juristen das sehr gerne anders sehen: ein Gericht ist eine Behörde. Eines der Grundmerkmale von Behörden ist, daß die Beamten kaum bis gar keinen persönlichen Anteil an den Folgen ihrer Entscheidungen, kein „skin in the game“, haben. Gerichte sind sogar ganz bewußt so eingerichtet; es ist kein Konstruktionsfehler oder ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Kein Beamter ist so sehr von den Folgen seines Handelns abgeschirmt wie der Richter. Das nennt sich richterliche Unabhängigkeit und ist eine technische Notwendigkeit des Richteramtes. Anders ist die Unvoreingenommenheit des Richters schlicht unmöglich. Aber gleichzeitig bedeutet dies, daß der Richter, vor allem der Strafrichter, über das Schicksal von Menschen entscheidet, ohne an der Sache Anteil zu haben. Das ist, wie gesagt, notwendig.
Der Todesstrafe gibt diese Anteilslosigkeit des Richters aber ihren besonderen Charakter, der sie aus allen anderen Tötungen heraushebt. Es gibt viele Gründe, einen Menschen zu töten: Rache, Wut, Notwendigkeit, Haß, Gier, Irrtum, Feindschaft. Gut oder schlecht, heldenhaft oder feige – all diese Gründe sind in irgendeiner Weise Ausdruck des Kampfes, der das Leben selbst ist. Der Richter hingegen ordnet eine Tötung in Anwendung eines Paragraphen an. Er steht außerhalb der Geschichte dieser Tötung. Todesurteil und Hinrichtung sind Verwaltungsakte des Staates, des Leviathans, der, was immer seine Vorteile, seinem Wesen nach die in ihm lebenden Menschen zur Verwaltungsmaße degradiert, und schreibe er die Menschenwürde noch so oft in die Verfassung.
Der Akt der Hinrichtung, die verwaltungsmäßige Tötung eines Menschen von Amts wegen, hat immer schon weit mehr Unbehagen bereitet als das bloße Töten an sich. Der Soldat ist ein Held. Der Henker ein Ausgestoßener. So war es immer, gerade in der frühen Neuzeit, in der die Todesstrafe im europäischen Strafrecht den Höhepunkt ihrer Verbreitung erreichte. Der Beruf des Henkers gehörte ganz formell zu den unehrenhaften Berufen. In vielen Städten bestand Personalunion mit dem des Abdeckers, des Entsorgers von Tierkadavern. Sozial standen die meisten Henker den von ihnen Hingerichteten näher als der bürgerlichen Gesellschaft, die diese Aufgabe auf sie abwälzte. Das ist einer der verstörendsten Aspekte der Todesstrafe. Den Grundsatz, daß derjenige, der das Urteil spricht, auch das Schwert schwingen muß, gibt es nur in Fantasieromanen. Alle real existierenden Gesellschaften der Geschichte haben die Hinrichtungen auf sozial Ausgestoßene und gescheiterte Existenzen abgewälzt.
Daran hat sich bis heute nichts geändert. In den Vereinigten Staaten sind die Identitäten der Mitglieder der Hinrichtungskommandos geheim. 2006 wurde in Missouri dennoch die Personalliste durchgestochen. Der für die Giftspritze verantwortliche Arzt war ein Legastheniker mit über 20 Verfahren wegen Kunstfehlern. Bei anderen Mitgliedern sah es ähnlich aus. Der Bundesstaat reagierte auf den Skandal 2009 damit, daß er die Veröffentlichung solcher Daten für die Zukunft unter Strafe stellte.
Der Bürger verlangt, daß „der Gerechtigkeit Genüge getan“ werde, aber das, was er da zur Gerechtigkeit erklärt, auch auszuführen, bringt er nicht fertig. Daher auch all diese Apparaturen, vom Galgen über die Guillotine bis zur Giftspritze, die die Hinrichtung automatisieren sollen. Dies hat nichts mit Effizienz zu tun. Jemandem den Schädel einzuschlagen ist nicht langsamer, sondern dient allein der psychologischen Distanz. Und während in der Vergangenheit die Religion und die Sorge um das Seelenheil des Verurteilten als Ausflucht bereitlag, haben sich moderne Staaten darauf versteift, das ganze Prozedere so gut wie möglich unter der Decke zu halten1.
Die Verwaltungsmäßigkeit und die Flucht vor der Verantwortung sind Wesensmerkmale der Todesstrafe. Diese Merkmale sind in einem modernen Verwaltungsstaat, der nun einmal ein managerialer Staat ist und sein muß, noch viel ausgeprägter als in früheren Zeiten. Doch so sehr einem diese verwaltungsmäßige Tötung mißfällt, eines läßt sich ja gar nicht bestreiten: daß sie als eben das, als Verwaltungsmaßnahme, sehr effektiv ist. Was wir die staatliche Verbrechensbekämpfung nennen, ist nun einmal eigentlich eine Verbrechensverwaltung, wenn auch mit dem Ziel, das Verwaltete möglichst zu reduzieren. Kriminalpolitik ist angewandte Statistik. Es geht um die Senkung der Kriminalitätsrate, und es ist eine Binsenweisheit, daß man dies am besten durch die Beseitigung von Kriminellen erreicht.
Eine schwedische Langzeituntersuchung2 kam 2013 zu dem Ergebnis, daß 1% der Bevölkerung für 63% aller Gewaltverbrechen verantwortlich sind. Die Studie kam zu dem Schluß:
„Die überwiegende Mehrheit der Gewaltverbrechen wird von einer kleinen Anzahl beständiger Gewalttäter begangen, fast ausschließlich Männern, die einen frühen Beginn gewalttätiger Kriminalität aufweisen und Probleme mit Drogenmißbrauch, Persönlichkeitsstörungen sowie nichtgewalttätiger Kriminalität zeigen. Diese Erkenntnisse legen die Bereitstellung umfassender Interventionen bei jungen Personen nahe, die ein oder zwei Gewaltverbrechen begangen haben und ein Risiko für die Entwicklung beständigen gewalttätigen kriminellen Verhaltens bergen.“
Letzteres ist genau, was das Strafrecht der frühen Neuzeit tat, wobei die umfassende Intervention nach ein oder zwei Gewaltverbrechen, oder auch nach anderen Delikten, in der Hinrichtung, oft schon in jungen Jahren, bestand. Das beseitigte nicht nur einen Delinquenten, der mit hoher Wahrscheinlichkeit sonst irgendwann das nächste Verbrechen begangen haben würde. Im Gegenteil zur alternativen Lösung, der Masseninhaftierung, ersparte man sich damit auch das Problem der Gefängnisbanden, die in jedem heurigen Staat einen ganz eigenen Teil des kriminellen Ökosystems ausmachen, vor allem in den Vereinigten Staaten, wo die Masseninhaftierung die Todesstrafe in der Breite ja abgelöst hat. Einer von 200 Amerikanern lebt hinter Gittern. Das verhindert das Schlimmste. Es läßt sich aber nicht abstreiten, daß die Todesstrafe eine effizientere Methode zur Bekämpfung der Kriminalität ist.
Schattenmacher hat kürzlich die Rückkehr zu hohen Hinrichtungsziffern sogar zum Maßstab eines „Happenings“ einer echten Veränderung anstelle der immer gleichen Empörung über sinnlose Brutalität gemacht3. Sein Schluß war wenig überraschend, daß das wenig wahrscheinlich sei. Kurzfristig ja, aber langfristig? Je größer das Kriminalitätsproblem durch eine importierte Unterschicht wird, desto wahrscheinlicher siegt der Pragmatismus der Verwaltung gegenüber der menschlichen Abscheu und dem Willen, dem Leviathan wenigstens die direkte Entscheidung über Leben und Tod seiner Verwaltungsmassenmenschen zu verwehren. Das mögen manche als Rückkehr zur historischen Norm sehen. Doch es wird uns ein weiteres Stück von dem kosten, was es heißt Mensch zu sein.