Ukraine – Erinnerungsskizze eines sterbenden Krieges
Die Front im Donbas bricht nun zusammen. Wo früher Wochen und Monate um einige zerschossenen Ruinen gekämpft wurde, nimmt die russische Armee nun ganze Städte in wenigen Tagen intakt ein. Der Ukrainekrieg wird bald Forschungsgegenstand der Zeitgeschichtler sein. Noch sind die Archive verschlossen und die Memoiren nicht geschrieben. Doch wir müssen uns jetzt fragen, wie es dazu überhaupt kommen konnte. Zeit für eine erste Skizze der letzten Jahre.
(Bild erstellt mit Midjourney)
Die militärische Geschichte dieses Krieges überlasse ich anderen, ich will die Frage stellen, wie die Vereinigten Staaten und der Westen im Ganzen in diese paradoxe Situation hineingeraten konnten. Was meine ich damit? Die paradoxe Situation besteht aus drei Aspekten:
1. Unabhängig von jeder moralischen Frage ist der Ukrainekrieg ein Konflikt, der von westlicher Seite gesucht wurde. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, daß der Westen damit das legitime Recht der Ukraine auf freie Bündniswahl und eine selbstbestimmte Zukunft frei von russischer Einmischung verteidigt hat. Das ändert nichts an der strategischen Tatsache, daß der Westen dieser Konfrontation leicht hätte aus dem Weg gehen können.
2. Der Ukrainekrieg begann mit westlichen Hoffnungen auf einen schnellen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft und einen Regimewechsel in Moskau, entwickelte sich aber schnell zu einem Turbobeschleuniger des bis dahin schleichenden amerikanischen Niedergangs. Zuerst zeigte er aller Welt die engen Grenzen westlicher Militär- wie Wirtschaftsmacht auf. Daß westliche Waffensysteme keine Wunderwaffen sind, die solche aus nichtwestlicher Produktion im Dutzend wegfegen war noch die geringste Blamage. Auch war die Tatsache, daß die russische Wirtschaft Sanktionen wegsteckte, die dazu gedacht waren, das Land innerhalb von Wochen in die Knie zu zwingen, noch nicht das schlimmste. Die gesamte Welt konnte sehen, wie katastrophal schlecht westliche Dienstleistungsgesellschaften auf die Anforderungen eines Krieges vorbereitet sind. Die Granatenproduktion war ein einziges Debakel. Man bedenke, daß China Rußland nicht direkt mit Kriegsgütern unterstützt. Die westliche Kriegsindustrie wurde von Rußland, Nordkorea und dem Iran geschlagen, Ländern die auf dem Papier zusammen kaum ein Zwanzigstel des westlichen Bruttoinlandsproduktes aufweisen. Diese Offenbarung der Schwäche hat die Feinde des Westens mobilisiert und ihre bisher lockeren und oft belächelten Verbindungen konkrete weltpolitische Gestalt annehmen lassen. Die BRICS wurden von einer regelmäßigen antiwestlichen Symbolveranstaltung zu einem Machtblock. Ebenso wichtig: Die Idee, daß nur das westliche Modell unter den Bedingungen der technischen Moderne zum Erfolg führen kann ist aufs drastischste widerlegt. Damit verliert der Westen seine stärkste ideologische Trumpfkarte: Die Behauptung der eigenen Alternativlosigkeit. Er verliert diese Trumpfkarte international gegenüber der nichtwestlichen Welt, aber auch nach innen gegenüber den immer zahlreicher werdenden Dissidenten. Dies, mehr als alles andere, macht den Ukrainekrieg für den Westen zu einer existentiellen Frage.
3. Angesichts dieser Bedrohung ist ein Sieg der Ukraine über Rußland aus westlicher Sicht unbedingt notwendig. Es ist sehr wichtig, das zu verstehen: Von ihrer Perspektive aus betrachtet hatten die Verfechter unbedingter Unterstützung der Ukraine im Westen recht! Sobald er sich auf diesen Kampf eingelassen hatte mußte der Westen alles daran setzen, daß die Ukraine siegt. Nun muß man hier eine wesentliche Einschränkung machen: Ein direkter Angriff der NATO auf Rußland wäre aus gleich zwei Gründen dennoch unratsam gewesen und ist es immer noch. Erstens besteht die Gefahr einer nuklearen Eskalation und zwar nicht bloß einer beabsichtigten, sondern vielmehr sogar einer aus Versehen. Man bedenke, daß es während des Kalten Krieges mehrmals fast zu einem nuklearen Schlagabtausch gekommen wäre, weil Frühwarnsysteme fehlerhafte Meldungen machten. In einem heißen Krieg sind diese und ähnliche Gefahren ungleich größer. Zweitens ist China der ukrainischen Frage gegenüber höchst indifferent, kann aber kaum einer militärische Niederwerfung Rußlands durch den Westen tatenlos zusehen. Ein direkter Kriegseintritt der chinesischen Industriemacht aber, kann für den Westen bei der derzeitigen Lage der eigenen Rüstungsindustrie kaum in etwas anderem als einer vollständigen Niederlage enden. Wessen Industrie gegen die Russen ins Schnaufen gerät, der braucht sich nicht mit China anzulegen. Aber gleichzeitig ist auch Folgendes ebenfalls richtig: Der Westen hat bei weitem nicht alles getan, was möglich gewesen wäre, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Im Gegenteil die Ukrainehilfen wurden von Anfang an Gegenstand eines gigantischen Aushandlungsprozesses sowohl zwischen den einzelnen westlichen Staaten, wie auch innerhalb dieser Staaten.
Der Ukrainekrieg ist für den Westen als geopolitischem Block und als ideologischer Wertegemeinschaft existenziell aber gleichzeitig haben die westlichen Staaten die Ukraine am Ende sehr halbherzig unterstützt. Nach diesem Krieg werden die Falken die Schuld für die Niederlage bei den Zögerern im eigenen Lager suchen und werden sie dabei unrecht haben? Jetzt wo alles zu spät ist, wurden einige veraltete F-16 Kampfflugzeuge geliefert. Was hätten hundert, oder auch nur fünfzig F-35 im Herbst 2022 bewirkt? Der Westen hat das Minsker Abkommen auf der einen Seite genutzt, um die ukrainische Armee aufzubauen, aber zum größten Teil auf sowjetischer Grundlage. Die Integration westlicher Waffensysteme fand weitgehend erst während des Kriegs statt. Auf der einen Seite hat der Westen in der Ukraine einen entscheidenden Kampf gesucht. Auf der anderen Seite war er lausig darauf vorbereitet und hat ihn selbst nach Kriegsausbruch nur halbherzig geführt: Das ist das Paradox vor dem wir stehen.
Inzwischen sind die Stimmen, welche den Krieg bis zum Regime Change in Moskau vorantreiben wollen, fast alle verstummt. Selbst die Kurskoffensive hat nur noch bei sowohl eingefleischten wie dummen Unterstützern der ukrainischen Sache Jubelstürme hervorgerufen. Die Absetzbewegungen der westlichen Gemeinschaft von dem gescheiterten Projekt sind unübersehbar. Schon seit letztem Herbst und dem Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive 2023 haben viele Kommentatoren in der Berichterstattung zum Ukrainekrieg, durch regierungsfreundliche oder gar staatlich finanzierte westliche Medien, eine Veränderung im Tonfall bemerkt. Die rhetorische Unterstützung nehme merklich ab. An dieser Stelle wäre tatsächlich einmal eine der langweiligsten Forschungsmethoden der Politikwissenschaft interessant: Die quantitative Textanalyse. Zu Deutsch: Wörterzählen. Man ginge durch sämtliche Medienartikel, Pressemitteilungen und Politikerreden zum Ukrainekrieg in den letzten dreieinhalb Jahren und verfolge wie häufig einzelne Begriffe oder Framings verwendet werden. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat solch eine Analyse für den ersten Kriegsmonat bei ach deutschen Leitmedien einmal durchgeführt.1 Nach meinem subjektiven Eindruck dürfte das Absinken der Siegesgewissheit seit Herbst letzten Jahres signifikant sein. Aber das festzustellen erfordert wissenschaftliche Mitarbeiter, die das alles in Vollzeit kodieren und wäre ein Projekt für alternative Forschungseinrichtungen, die über bessere finanzielle Mittel verfügen, als Fragen zur Zeit. Das nur als Anstoß, was man mit der ganzen Partei- und Stiftungsknete so anfangen könnte.
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Wenn man keine quantitativ belastbaren Daten hat, muß man sich mit Ersatzindikatoren begnügen. Dafür ziehe ich hier zwei heran: Die politischen Auseinandersetzungen um die Finanzierung der Ukrainehilfen in den USA und Deutschland, sowie die jetzige Darstellung der Ukraine als Schuldiger an der Sprengung der Norstream-Pipelines im Jahr 2022. Zu letzterem Vorwurf: Es ist hier irrelevant, ob die Ukraine tatsächlich die Hauptverantwortung für den Anschlag trug, oder ob nicht doch die Amerikaner, oder die Polen, oder eine dritte Partei dahinter steckten. (Dirk Müller hat sich einmal die ganzen absurden Widersprüche der derzeitig halboffiziellen Version der Ereignisse vorgenommen.2) Die Tatsache, daß in systemnahen westlichen Medien die Ukraine auf einmal als Schuldiger dargestellt wird, stellt eine Abkehr von der Unterstützung der Ukraine dar und wäre es umso mehr, sollte die Ukraine gänzlich unbeteiligt sein. Was ersteren Indikator anbelangt. Der jüngste Streit in Deutschland um die Weiterfinanzierung der Ukraine im Rahmen der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse sollte dem Leser bekannt sein. In den Vereinigten Staaten nahmen Herbst 2023 die Republikaner die Ukrainehilfen gar als Verhandlungsmasse in Geiselhaft, um in den Haushaltsverhandlungen Mittel für den Grenzschutz herauszuhauen. In der Folge brachen die US-Zuwendungen an die Ukraine vom Herbst 2023 bis zum Frühjahr 2024 fast vollständig ein. Erst im Sommer 2024 erreichten sie wieder ein ähnliches Niveau als zuvor. In absoluten Zahlen sind die Vereinigten Staaten und Deutschland der größte und der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine.3 Daß die Ukrainehilfen in beiden Ländern zum Spielball der Innenpolitik werden konnten ist ein klares Zeichen für den schrittweisen Rückzug des Westens aus dem Krieg. Denn normalerweise gilt: Die Außenpolitik der Regierung kann kritisiert werden, dennoch stützen alle systemtreuen Kräfte den jeweiligen Kurs. Die Innenpolitik endet an der Grenze. Als Angela Merkel, damals noch Oppositionsführerin, Präsident Bush versicherte, eine Unionsregierung würde sich am Irakkrieg beteiligen, war das ein Skandal.
Im Zerfall der Unterstützungsfront sehen wir den Bruchpunkt des gesamten Unterfangens hervortreten. Gerade die Tatsache, daß in den Vereinigten Staaten der Ukrainekrieg auf einmal zur innenpolitischen Verhandlungsmasse geworden ist, zeigt, wie es überhaupt soweit kommen konnte. Dazu muß man eines begreifen: Die Vereinigten Staaten sind eine Großmacht mit weltweiten Interessen. Es gibt kein Land auf dieser Erde, in dem die Vereinigten Staaten von Amerika keine nennenswerten Interessen hätten. Deshalb muß das politische System in der Außenpolitik eine ungeheure Menge an Informationen bearbeiten. Ich sage „das System“, denn natürlich kann kein Präsident, kein Außenminister und auch nicht der engere Beraterstab die ganze Welt im Blick haben. Da sind die Ukraine und Osteuropa und die Folgen des Maidan, aber da sind auch Bangladesh und Südostasien, wo übrigens gerade gerade eine proamerikanische Farbenrevolution stattgefunden hat, da sind Lateinamerika und Afrika, da sind der Mittlere Osten und Zentralasien und am 38. Breitengrad in Korea stehen bis heute amerikanische Truppen.
Nun, jedes Land der Erde ist im Grunde mit der Komplexität der Gesamtlage auf diesem Planeten überfordert. Jedes Land der Erde hält sich deshalb ein ganzes Außenministerium mit angeschlossenem Botschaftsdienst um die Fülle der anfallenden Informationen zu bearbeiten. Mit einzelnen Abteilungen für einzelne Regionen, oder gar einzelne Länder. Das deutsche Auswärtige Amt hat zur Zeit etwa 12.000 Bedienstete und da sind weder die Geheimdienste, noch die mit auswärtigen Angelegenheiten befassten Bedienstete anderer Ministerien eingerechnet. Die allermeisten Länder dieser Erde können die tatsächliche Komplexität aber dadurch reduzieren, daß sie ihre Politik auf diejenigen Angelegenheiten konzentrieren, die sie unmittelbar am stärksten betreffen.
Die Außenpolitik der meisten Länder der Welt ist außerhalb ihrer näheren Umgebung nicht zu stark involviert. Der Präsident des Irans muß die Verhältnisse aller islamischen Kampfgruppen des Mittleren Ostens in- und auswendig kennen. Aber es würde dem Iran kein Schaden entstehen, sollte er sagen wir einmal die Philippinen auf der Karte mit Malaysia verwechseln. Was immer der Iran tatsächlich mit den Philippinen zu regeln haben mag, wahrscheinlich Handelsabkommen, dafür kann eine Handvoll Fachleute für die Philippinen zuständig sein, die keiner kennt und die dann eigentlich die iranische „Philippinenpolitik“ betreibt. Viel Schaden können diese Leute nicht anrichten, denn so viel Philippinenpolitik ist da nicht zu machen.
Bei globalen Großmächten sieht das anders aus. Das hat zwei Folgen: Die weniger schädliche der beiden ist, daß in der Regel die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. Das sorgt oft für Widersprüche in der Politik. Gerade auf große und plötzliche Umbrüche in anderen Weltregionen reagieren die Vereinigten Staaten deshalb oft ohne klare Linie. Nach seinem Sturz erklärte der Schah des Iran einmal, daß Schlimmste am Verhalten der Amerikaner während der Revolution sei ihre Unbeständigkeit gewesen. Daß an einem Tag vom einen Amt feste Unterstützung zugesagt worden sei, während am nächsten ein anderer Sprecher Sympathie für die Rebellen bekundete und am dritten durch eine diplomatische Quelle durchgestochen worden sei, man werde sich mit jeder Regierung in Teheran engagieren, daß habe den Kampfeswillen der Schahtreuen rasch aufgezehrt. Als 2011 arabische Regime, die bisher meist von Washington gestützt worden waren ins Wanken gerieten, waren die Vereinigten Staaten ähnlich ziellos.
Gefährlicher aber ist etwas anderes: Es ist eine bekannte Tatsache, daß Sondergruppen mit einem engen aber klaren Interesse sich in politischen Aushandlungsprozessen meist disproportional zu ihren eigentlichen Machtmitteln durchsetzen können, wenn ihnen gegenüber nur die breiten Mehrheit mit ihren diffusen Interessen steht. Der Grund dafür, den der britische Ökonom Mancur Olsen4 herausgearbeitet hat, ist vereinfacht gesagt derjenige, daß die Mitglieder der kleinen Sonderinteressengruppe starke Vorteile im Erreichen ihres jeweiligen Zieles sehen, die Angehörigen der breiten Mehrheit hingegen bleiben passiv, weil jeder einzelne für sich nur einen kleinen Vorteil sieht, wenn das gemeinsame Ziel erreicht wird. Das ist der Grund, aus dem Lobbygruppen von Industrieverbänden oft die ihnen genehmen Regularien durchbekommen, selbst wenn sie der Allgemeinheit schaden. Der Lobbyverband konzentriert seine Aufmerksamkeit auf dieses enge Gebiet, während die Vielzahl der Bürger, welche die Allgemeinheit ausmachen, erstens mit ihren je eigenen Leben beschäftigt sind und zweitens selbst in der begrenzten Zeit, in der sie sich mit Politik befassen kaum über, sagen wir Regularien in der Lebensmittelbranche zur Beifügung von Saatöl nachdenken werden.
Aber, könnte man einwenden, gerade dafür bezahlen wir doch Politiker! Dafür, daß unsere Repräsentanten sich über die Dinge Gedanken machen, die der einfache Bürger nicht alle auf dem Schirm haben kann. Nun lassen wir sämtliche Probleme der Korrumpierbarkeit einmal beiseite. Auch der Tag des besten und saubersten Politikers hat nur 24 Stunden. Das Erste, was man Schülern im Sozialkundeunterricht erzählen sollte und was ihnen natürlich nicht erzählt wird ist, daß Abgeordnete nur einen Bruchteil von all dem lesen, worüber sie abstimmen. Auch sie haben das Problem, daß die Aufmerksamkeit und die Ressourcen, die sie einem Thema widmen können viel geringer sind, als die, die ein darauf spezialisierter Lobbyverband aufbringen kann.
Aufgrund der weltweiten Ausdehnung ihres Imperiums ist die amerikanische Politik nicht nur schlecht darin, Informationen zentral zu verarbeiten, sie ist auch anfällig dafür, daß sich Interessengruppen der Politik zu bestimmten Ländern und Regionen bemächtigen, obwohl die Vereinigten Staaten als Ganzes dort relevante Interessen haben. Die beherrschende Rolle der Israellobby in der amerikanischen Orientpolitik ist nur das extremste Beispiel dafür. Etwas ähnliches konnten wir auch im Vorlauf des Ukrainekrieges sehen.
Als bekanntestes, weil drastischstes Beispiel dafür wird immer Victoria Nuland genannt. Wie ihr Ehemann Robert Kagan und viele andere führende Neokonservative entstammt Nuland einer jüdischen Familie, die aus Rußland nach Amerika geflohen ist und tiefe persönliche Anliegen in dieser Weltregion hat. Vor allem aber ist Nuland ein wunderbares Beispiel um die Folgen des Informationsverarbeitungsproblems und der dadurch notwendigen Delegation wichtiger Themen an untergeordnete Stellen darzustellen. Während der Maidanrevolution konnte Victoria Nuland praktisch die ukrainische Regierung auswählen, weil sie von 2013 bis 2017 Assistant Secretary of State für Europa und Eurasien war, ein Rang, der in etwa dem eines Unterabteilungsleiters im deutschen Auswärtigen Amt entspricht. Das ist ein hoher Posten, aber er steht immer noch zwei Befehlsstufen unterhalb des Außenministers, der sich, so sollte man meinen, in Fragen die Krieg und Frieden mit anderen Großmächten berühren, immer noch mit dem Präsidenten selbst absprechen muß. Aber de facto war es Nuland die vor Ort die amerikanische Politik bestimmte. Daß Nuland genau diesen Posten und nicht etwa den für Ostasien und den Pazifik bekleidete war kein Zufall, aber auch kaum das Ergebnis einer großen Verschwörung. Nulands familiärer Hintergrund und ihre Verbindung mit der neokonservativen Bewegung sorgte von ganz alleine dafür, daß sie sich vor allem mit dieser Weltregion beschäftigte, schon unter der Regierung Clinton war sie Direktorin für Angelegenheiten der Ehemaligen Sowjetunion und irgendwann landete sie dann beruflich dort, wo sie hinwollte. Das ist nichts ungewöhnliches aber eben gerade auch ein Mechanismus über den kleine, stark interessierte Gruppen in großen Organisationen bestimmte für sie wichtige Prozesse und Entscheidungen in die Hand bekommen.
Schauen wir uns das Amt, welches Nuland damals bekleidete, einmal an: Durch glücklichen Zufall bin ich über den Aufbau des amerikanischen Außenministeriums im Jahr 20145 gestolpert, also zu der Zeit der Maidanrevolution. Prinzipiell hat sich aber seither nichts verändert. Es gab damals ganze vierundzwanzig Assistant Secetaries of State zwei waren direkt dem Außenminister unterstellt, der Rest, darunter auch Nulands Posten für Europa und Eurasien unterstand verschiedenen Under Secretaries of State. Nuland unterstand zusammen mit fünf anderen, die für bestimmte Weltregionen zuständig waren, sowie einem für Internationale Organisationen dem Under Secretary of State for Political Affairs. Von den anderen neunzehn Assistant Secretaries gab es drei, die für technische Verwaltungsaufgaben zuständig waren und von denen wir einmal annehmen wollen, daß der Außenminister sich mit ihrer Arbeit nicht zu befassen brauchte. Die andern sechzehn aber bearbeiteten ebenfalls sachliche Themenfelder, die freilich in ihrer Bedeutung schwankten, die aber auch alle in irgendeiner Weise die Aufmerksamkeit des Außenministers verlangten.
Blicken wir einmal aus der Perspektive Barack Obamas darauf: Nuland, also die Frau die wesentlich für die amerikanische Politik in Europa verantwortlich zeichnete, war drei Befehlsebenen von ihm entfernt. Eine einzige Unterabteilungsleiterin in einem einzigen Ministerium. An den allermeisten Tagen seiner Amtszeit wird Barack Obama kein einziges Mal darüber nachgedacht haben, was Nuland gerade macht. Und bisher haben wir nur über das Außenministerium gesprochen. Dazu kamen die Geheimdienste. Dazu kamen Stiftungen wie das National Endowment for Democracy oder Soros Open Society Foundation, und dann waren da noch die Europäer. In Europa wiederum waren die Hauptinteressierten an der Ukraine osteuropäische Staaten, deren wichtigstes Motiv eigene Absicherung gegen die Russen, oder einfach Rache für die sowjetische Besatzungszeit war.
Irgendwann passierte der Maidan. Die berühmten fünf Milliarden Dollar, welche die Vereinigten Staaten laut Victoria Nuland seit 1991 in prowestliche Kräfte investiert hatte zahlten6, sich aus. Fünf Milliarden über die weder Bush Senior, noch Clinton, noch Bush Junior, noch Obama groß werden nachgedacht haben führten zu einer internationalen Krise.
Krisen haben die Eigenschaft, daß sie ihren Gegenstand auf der politischen Agende um mehrere Stufen nach oben katapultieren. Auf einmal ist das Chefsache, auch wenn der Chef bis dahin wenig damit zu tun hatte. Vor 2008 hat sich niemand außer einer Hand voll Fachleute für die Bewertungsstandards von Ratingagenturen interessiert. Die Feinheiten der Impfstoffzulassung waren vor 2020 noch viel obskurer. Genau so wurde die Ukraine für einige Monate zur Chefsache. Für Victoria Nuland bedeutete das, daß der Maidan gleichzeitig ein Triumph aber auch eine Art Entmachtung war, denn jetzt waren Leute involviert, die deutlich über ihr standen. Die Staats- und Regierungschefs der betroffenen Mächte einigten sich schließlich auf die Minsker Abkommen, welche den Konflikt für acht Jahre einfroren. Und dann war die Krise vorüber und andere Dinge nahmen die Aufmerksamkeit dieser Staats- und Regierungschefs in Anspruch, außer bei den Präsidenten Rußlands und der Ukraine, die aus naheliegende Gründen stärker involviert blieben.
Zwei Jahre später wurde in den Vereinigten Staaten Donald Trump gewählt und es passierte etwas, was in der Vorgeschichte des Ukrainekrieges so gut wie immer übergangen wird: Die Demokraten schoben ihre verlorene Wahl auf angebliche verschwörerische Einwirkungen Vladimir Putins. Es begannen drei Jahre der Untersuchungen, die nichts zu Tage brachten. Der Zweck war reine innenpolitische Obstruktion. Nach der Niederlage in der Wahl 2016 bestand die Strategie der Demokraten und der Nevertrumper in der republikanischen Partei darin, Trump durch beständige Verfahren an der Umsetzung seiner Politik zu hindern, seine Kräfte einfach bis zur nächsten Wahl in immer neuen Untersuchungen zu binden. Das hatte nichts mit Rußland und noch weniger mit der Ukraine zu tun. Aber es hatte die Folge, daß jede Klärung der ukrainischen Frage im Rahmen eines allgemeinen amerikanisch-russischen Ausgleichs zwischen Trump und Putin, also von Präsident zu Präsident unmöglich wurde, weil Trump damit den Anschuldigungen gegen ihn Futter gegeben hätte. Damit aber, daß eine Lösung auf der obersten Ebene unmöglich wurde, versank die Ukrainepolitik wieder in den Eingeweiden des politischen Systems und damit bei Leuten wie Victoria Nuland, die aus dem einen oder anderen Grund ein besonderes Interesse daran hatten. Während Trump sich gegen aus der Luft gegriffene Anschuldigungen verteidigen musste, reisten die den Neokonservativen nahestehenden Senatoren John McCain und Lindsey Graham schon im Dezember 2016, einen Monat nach der Wahl, Trump war noch nicht ins Amt eingeführt, in die Ukraine und Graham rief in einer Rede vor ukrainischen Soldaten die Offensive aus.7 Nicht das er dafür irgendein Mandat gehabt hätte, aber er versicherte den Donbaskämpfern und mit Sicherheit auch der politischen Führung in Kiew, daß er und McCain in Washington alles für die ukrainische Sache tun würden. In Abwesenheit einer dem entgegenstehenden präsidentiellen Autorität konnten so vor Ort Fakten geschaffen werden.
Das ging so weiter, bis die Situation im Herbst und Winter 2021-2022 erneut hochkochte. Man wird sich an die widersprüchlichen Aussagen Bidens erinnern, die man damals wohl noch nicht allein auf seine Demenz schieben konnte. Während er die Russen vor den Folgen einer Invasion warnte, versicherte er ihnen gleichzeitig, daß keine amerikanischen Truppen in der Ukraine eingesetzt werden würden. Damit begann die merkwürdige Unterstützung der Ukraine, die sich bei jedem neuen Waffensystem durch endlose Diskussionen auszeichnete, ob man es denn nun liefern solle oder nicht. Von Himars und deren verschiedenen Raketentypen, über den riesigen Streit wegen der Panzerlieferungen bis schließlich zu der viel zu späten Lieferung einiger veralteter Flugzeuge.
Den wesentlichen Grund für diese paradoxe Lage haben wir hier gesehen: Die Aussage, die USA, oder der Westen im Allgemeinen haben in der Ukraine die Konfrontation gesucht, ist nur dahingehend richtig, wenn man die Handlungen des politischen Systems als ganzes betrachtet. Diese wurden aber über die weiteste Zeit von relativ kleinen und untergeordneten Interessengruppen bestimmt. Die weitaus größeren Teile der Politiker und führenden Beamten wird nicht unbedingt die wärmsten Gefühle für Rußland gehabt haben, aber sie haben nicht geplant die Zukunft der westlichen Wertegemeinschaft auf den Ausgang eines Krieges im Donbas zu verwetten. Der größte Teil der Entscheidungsträger wurde selbst von den Ereignissen überrollt.
Diejenigen, die das tatsächlich geplant hatten, standen aber vor einem anderen Problem. Sie konnten die Konfrontation erzwingen, weil und solange die Ukraine nur ein Thema unter vielen war. Sobald der Krieg ausgebrochen war stieg die Ukraine wieder auf der Agende nach oben. Sie wurde Chefsache und damit wurde über dieses Thema nicht mehr auf der Eben von Victoria Nuland, den Kagans, Lindsey Graham und ihren Kreisen entschieden. Nicht nur sind jetzt die höheren Instanzen involviert. Es gibt auf einmal auch viel mehr Gruppen, die sehr reale Interessen in dieser Sache haben. Der ausgebrochene Krieg betrifft viele, auch diejenigen, die das Vorspiel der Jahre 2014-2022 ignorierten, weil sie mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt waren.
Daß die Entscheidungen nach Kriegsausbruch wesentlich von anderen Personenkreisen getroffen wurden, als in der Vorbereitungsphase des Krieges, führte zu dieser widersprüchlichen Strategie, bei der das politische System als Ganzes erst die Entscheidung gegen Rußland suchte, dann aber nicht bereit war die Konsequenzen zu ziehen und auch wirklich alles an den Sieg zu setzen.
Maurer, Marcus/Haßler, Jörg/Jost, Pablo (2023): Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine, Bundeszentrale für politische Bildung, Ukraine-Analyse Nr. 289, Link: https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-289/541402/analyse-die-qualitaet-der-medienberichterstattung-ueber-russlands-krieg-gegen-die.
Müller, Dirk (2024): Dirk Müller - Tiefer kann man nicht sinken: Die größte politische Krise der BRD seit ihrem Bestehen, Link:
Relativ zum Bruttoinlandsprodukt ist der größte Unterstützer Dänemark.
Sämtliche Angaben zu den Hilfslieferungen an die Ukraine entstammen dem „Ukraine Support Tracker“ des Kieler Instituts für Weltwirtschaft : https://www.ifw-kiel.de/de/themendossiers/krieg-gegen-die-ukraine/ukraine-support-tracker/
Olson, Mancur (1982): The Rise and Decline of Nations, 1982.
US Department of State (2014): Department of State Organization Chart (text only): March 2014, Link: https://web.archive.org/web/20150524232952/http://www.state.gov/r/pa/ei/rls/dos/99484.htm.
Nuland, Victoria (2013): Victoria Nuland: Ukrainians Deserve For Respect From Their Government, Rede vor der US-Ukraine Foundation, Link:
December 2016: Lindsey Graham and John McCain in Ukraine, Link: