Wer trägt die Schuld der Welt?
Wohin man sieht. Es besteht großer Bedarf an Feinden, die einen nicht durch Kinderaugen ansehen. In einer vertrackten Welt, ohne saubere Lösungen, drehen sich ganze Ideologieproduktionen um die Erzeugung von Feinden, die man in aller Ruhe hassen kann. Orks, der Kapitalismus und das Gestell haben so einiges gemeinsam.
(Bildmontage: Kreuzigung Breu d. Ä.; Charles Darwin; J.R.R. Tolkien; Kinder während der somalischen Hungersnot, Christian Illner)
Was die „Herr der Ringe“-Verhunzung „The Rings of Power“ betrifft, hat sich ja allgemeine Indolenz breitgemacht. Die erste Staffel haben sich tatsächlich ein Haufen Leute aus Haß angesehen, die zweite wurde einfach ignoriert. Bis eine Szene auftauchte, die ganz kurz eine Orkfamilie zeigt. Einer der Orks hatte wenig Lust, in den Krieg zu ziehen, und sorgte sich eher um seine Frau und sein kleines Kind.
Warum ist es gerade dieser Szene gelungen, noch einmal alle Fans aufzubringen? Was stellen die Orks in Tolkiens Universum dar? Die primitive Freude am Bösen, am Foltern, Töten und Zerstören. Durchaus auch im Gegensatz zu Sauron, Morgoth, Saruman, den Ringgeistern und anderen bösen Wesen in Tolkiens Welt, die ein vergeistigtes Böses darstellen. Das Wort Ork hat es als Beleidigung in den Sprachgebrauch geschafft, und es ist bezeichnend, daß Tolkien selbst damit angefangen hat. In manchen seiner privaten Briefe verwendet er es für Leute, die Freude an der Zerstörung und Besudelung empfinden und zwar vor allem an der schöner Dinge, die sie selbst nicht erschaffen könnten. Eine Stelle des „Herrn der Ringe“ beschreibt den abgeschlagenen Kopf einer gondorianischen Statue, die von Orks bekritzelt wurde.
Manchmal verwendet man Ork inzwischen nur noch zur Bezeichnung eines grobschlächtigen Menschen. Als aber die ukrainische Propaganda im ersten Jahr des russisch-ukrainischen Krieges die russischen Soldaten als Orks bezeichnete, da waren nicht Gym-Bros mit Stiernacken gemeint. Der Ausdruck zielte in Tolkiens ursprüngliche Richtung und sprach den russischen Soldaten direkt die Persönlichkeit ab.
In Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Filmen gibt es eine berühmte Szene, in der neue Uruk-Hai erwachsen aus einer Brutgrube in Isengard schlüpfen. Unter ein altes YouTube-Video dieser Szene hat jemand nun vor kurzem kommentiert: „Jetzt haben sie Frauen und Kinder.“ Das Witzige ist nun: Tatsächlich ist es letztere Szene, die gegen die Hintergrundgeschichte Tolkiens verstößt, nicht erstere. Orks vermehren sich nach Tolkien durchaus auf natürlichem Wege. Der sehr passend benannte Youtuber „Nerd of the Rings“1 hat sich diesen Anlaß nicht nehmen lassen und die ganze Lore zu diesem Thema im Detail durchdekliniert. Tatsächlich wurde Tolkien im Jahr 1953 von einem Leser nach den Frauen der Orks gefragt. Er antwortete: „Es muß Orkfrauen gegeben haben, doch in Geschichten, die selten oder niemals Orks zeigen, außer als Soldaten der Heere im Dienst böser Herrscher, würden wir natürlich nicht viel über ihr Leben erfahren.“ Das ist übrigens eine richtige Tolkien-Antwort. Nicht weil er ausweicht, sondern weil er sich darauf zurückzieht, daß seine Geschichten ja eigentlich Überlieferungen aus Mittelerde seien und man deshalb, aufgrund der Perspektive der elbischen, menschlichen oder hobbitischen Autoren, nichts über das Familienleben der Orks erfahre.
Trotzdem Orks sich natürlich vermehren, taucht in Tolkiens ganzem Werk meines Wissens nach keine einzige Orkfrau auf, und erst recht kein Orkkind. Der einzige Hinweis auf familiäre Beziehungen zwischen Orks in Tolkiens Werk ist meines Wissens im „Kleinen Hobbit“, wo geschrieben steht, daß Bolg, der Anführer der Orks in der Schlacht der fünf Heere, der Sohn von Azog war, der wiederum Thorin Eichenschilds Großvater Thrór getötet hatte. Tolkiens Orks vermehren sich auf natürliche Weise, nur kommt es nicht so vor, als ob sie Frau und Kind hätten.
An dieser Stelle wird ein kurzer Exkurs zu einem Wortpaar notwendig, daß ich hier ganz bewußt nicht verwende: Vermenschlichen und Entmenschlichen. Der Gegensatz Vermenschlichen/Entmenschlichen ist hier, wie mir in der Ausarbeitung dieses Textes klar wurde, vollkommen irreführend. Unsere Sprache füllt einfach zu viel in das Wort „menschlich“, das Adjektiv zu unserer eigenen Spezies, hinein. Man kann einen Hund vermenschlichen, indem man ihm menschliche Absichten unterstellt, da ist noch relativ klar, was gemeint ist. Mit dem Ausdruck jemanden zu entmenschlichen, ist aber nur irgendwie gemeint, daß man ihm irgendwelche moralischen Eigenschaften abspricht, die wir an das Wort „menschlich“ geheftet haben. Das Wortpaar Vermenschlichen/Entmenschlichen verhüllt deshalb mehr, als es uns verrät.
Der Ork mit Frau und Kind ist aber auch nicht das, was die Macher von „Rings of Power“ sich wohl davon erhoffen: Eine Kritik an der rassistischen Darstellung von Orks, einer fantastischen Spezies, welche die Linken seit eh und je zu sehr an Schwarze erinnert hat, um je ganz warm mit Tolkiens Welt zu werden. Das wäre auch nicht einen Satz wert. Tolkien schrieb, daß die Orks Kreaturen des Bösen sind. Wenn nun ein heutiger Schreiberling, der auf irgendeinem Wege über fünfzig Jahre nach Tolkiens Tod an die Rechte an Tolkiens Werk gekommen ist, nun eine Mittelerdegeschichte schreibt, in der die Orks eigentlich die Guten sind, dann wäre das nicht mehr als die seit einem Jahrzehnt übliche Franchise-Zerstörung durch woke Filmstudios.
Der Ork mit Familie hat nicht aus diesem Grund so viele gestört. Wie gesagt, verstößt diese Szene nicht gegen Tolkiens Quellenmaterial, anders als die Erschaffungsszene der Uruk-Hai im „Herr der Ringe“-Film, die aber von niemandem beanstandet wurde. Aber sie zeigt etwas auf, das viel verstörender wirkt als eine Umdichtung der tolkienschen Orks zu edlen Wilden, die ja in anderen Fantasy-Werken längst gang und gäbe geworden ist. Ein Ork kann nämlich genauso sein, wie Tolkien ihn beschrieben hat, und sich dennoch um seine Brut sorgen.
Charaktere halten noch ganz andere Widersprüche aus. Es gibt ein Bild aus dem Jahr 19362, welches auf einer Gartenterrasse in Rußland aufgenommen wurde. Auf Korbstühlen sitzen drei Männer. Im Vordergrund Lawrenti Beria, der Stalins Tochter Swetlana auf dem Schoß hält. Im Hintergrund sitzt Stalin, die Pfeife im Mund und in ein Schriftstück vertieft. Hinter Beria sitzt, leicht verdeckt, der weniger bekannte Nestor Lakoba, auch er ein früher Mitstreiter Stalins aus dem Kaukasus. Seine Kopfhörer, die man damals noch nicht zum Musikhören verwendete, sind das einzige, was dieser Szene etwas von ihrer, ja, hobbithaften Gemütlichkeit nimmt. Lakoba war Vorsitzender der Kommunistischen Partei Abchasiens gewesen, vor der Eingliederung Abchasiens in die georgische Sowjetrepublik. Noch im Dezember dieses Jahres würde Beria ihn vergiften lassen.
Der Ork mit Familie zeigt auf, daß eben selbst ein Mörder noch keine Mordmaschine ist. Er hat immer noch eine Persönlichkeit jenseits der verbrecherischen Tat. Deswegen vertragen wir die Todesstrafe nicht mehr.
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