„Wir oder Bürgerkrieg“ – Herrschaftslegitimation in Krisenzeiten
Folgenden Gedanken höre ich immer wieder: „Die politischen Systeme des Westens erzeugen gesellschaftliche Probleme und werden gerade dadurch stabiler.“ Stimmt das?
(Bild erstellt mit Midjourney)
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Jeder kann sich in etwa vorstellen, was damit gemeint ist. In dieser Form ist es aber sehr vage. Die Probleme stabilisieren das System? Welche Probleme überhaupt? Wie soll man sich das vorstellen? Versuchen wir diese Aussage erst auf den Begriff zu bringen, um später ein Modell ihrer Struktur zu erstellen.
Eine Vorbemerkung an die Leserschaft. Das ist das erste Mal, daß ich auf Fragen zur Zeit ein formelles Modell veröffentliche. Mich würde Ihre ehrliche Rückmeldung interessieren, was halten Sie davon. Mehr davon? Langweilig? Poensgen soll lieber labern, damit ich auf dem Weg zur Arbeit etwas hören kann? Ich muß auch zugeben, daß ich mich dabei fachlich außerhalb meiner Kernbereiche begebe, ich hoffe kein Mathematiker wird mir nachweisen, was für einen Schwachsinn ich da zusammengeschrieben habe. Schreiben Sie das hier in die Kommentare. Besonders interessiert mich dabei natürlich die Meinung der zahlenden Kundschaft die erstens als einzige den ganzen Text hier lesen können und die auch bei zukünftigen theoretischen Tieftauchgängen die Hauptleidtragenden wären.
Wir werden nicht mit einer Diskussion der Ursachen für politische Stabilität oder Instabilität beginnen. Tatsächlich werden wir versuchen eben dies zu vermeiden. Das hat einen Grund: Es ist sehr viel Tinte über die Frage vergossen worden, was genau eigentlich die Stabilität politischer Systeme ausmacht und was umgekehrt die soziologischen Bedingungen von Revolutionen sind. Das Problem ist hier freilich, daß gemessen an den Maßstäben der empirischen Soziologie, das vorhandene Material für solche Untersuchungen weder reichlich, noch einfach zugänglich ist. Wer hat schon einmal zuverlässige Demoskopie in einem Bürgerkriegsland betrieben? Wenn wir auf diesem Grund bauen wollten, dann hinge der Wert alles folgenden gleich von zwei sehr unklaren Voraussetzungen ab: Erstens, daß die Untersuchungen auf welche wir uns stützen wollten selbst richtig wären. Zweitens, daß diese Untersuchungen, auf unsere gegenwärtige Situation übertragbar wären.
Stattdessen werden wir politische Stabilität einfach, analog zur allgemeinen Definition der Macht durch Max Weber1, als Chance des Machterhaltes eines Regimes definieren. Eine einzige Eigenschaft werden wir dieser Stabilität zuschreiben:
Die Stabilität eines Regimes ist umso höher, je höher die Differenz zwischen der Gesamtheit der Machtmittel all derjenigen, die ein Interesse am Machterhalt des Regimes haben, zur Gesamtheit der Machtmittel all derjenigen ist, die ein Interesse am Sturz des Regimes haben. Einfacher ausgedrückt, je stärker die Gesamtheit der Unterstützer des Regimes gegenüber der Gesamtheit seiner Gegner ist, desto höher ist seine Stabilität.
Dieser Satz ist mit allen Theorien und Untersuchungen zu den Ursachen von Stabilität und Revolution kompatibel, welche sich ja lediglich über seine empirische Ausgestaltung streiten. Welche Machtmittel sind wie Mächtig? Welche Akteure haben wie viel davon? Wer ist überhaupt ein Akteur? Was erzeugt das Interesse bestimmter Akteure am Erhalt oder Sturz des Regimes?
All diese Fragen können wir offenlassen, sie berühren die Struktur, die wir herausarbeiten wollen, nicht. Was wir allerdings definieren müssen, ist das Interesse am Machterhalt selbst, nicht seine Ursachen. Das ist allerdings nicht kompliziert. Da jeder Akteur eine Erwartung davon hat, wie es ihm im Falle eines Erhalts des Regimes oder eines Sturzes des Regimes ergehen würde und er diese verschiedenen Zustände gegeneinander bewertet, können wir beiden Situationen „Erhalt des Regimes“ und „Sturz des Regimes“ für jeden Akteur einen Nutzen zuweisen. Wir gebrauchen den Begriff Nutzen im Rahmen der Spieltheorie. Das heißt:
„Theoretisch handelt es sich um kardinal messbare Nutzenwerte, mit denen die verschiedensten Situationen bewertet werden. Nur der Einfachheit halber wird dieser Nutzen oft als Universalgut, Superwährung oder Geld bezeichnet. Die Höhe der Auszahlung ist also nur ein Maß dafür, für wie wünschenswert die Spieler die verschiedenen Spielausgänge halten, gewissermaßen für das „Glück“, das von den Spielausgängen ausgeht.“2
Überwiegt also der Nutzen des Erhalts den Nutzen des Sturzes des Systems, so besteht ein Interesse am Erhalt, umgekehrt ein Interesse am Sturz.3 Der wichtige Punkt ist dieser: Jeder Akteur hat nicht bloß einen Erwartungswert, sondern zwei. Einen für eine Zukunft bei Erhalt des Systems und eine für den Fall seines Sturzes. Dazu hat der Akteur einen Machtmittelwert, welcher Ausdrückt wie bedeutsam seine Unterstützung des Regimes im Vergleich zu anderen ist. Zur Erklärung weil das Wort unklar seien kann. Es handelt sich nicht um einen Mittelwert der Macht, sondern einen Wert aller Machtmittel des Akteurs. Machtmittel deshalb, weil die Macht selbst nach Webers Definition eben die Chance selbst ist, seinen Willen durchzusetzen, daß bedeutet aber, daß sie sich nicht mit den Chancen anderer dasselbe zu erreichen aufaddieren läßt, um so einen gemeinsamen Machtwert zu erreichen.
Wichtig: Für die Regimestabilität ist nur das Verhältnis der Machtmittel, welche zum Erhalt, gegenüber den Machtmitteln, welche zum Sturz des Regimes aufgewendet werden wichtig.
Ab einer gewissen Komplexität wird die formale Darstellung erforderlich. Also formalisieren wir:
Gesetzt sei die Menge einer Gesellschaft G bestehend aus einzelnen Akteuren A ∈ G.
Jedem Akteur A sei zugeordnet ein Machtmittelwert m. Die Summe der Machtmittelwerte aller A ∈ G normieren wir der Einfachheit halber auf 1.
Gesetzt sei weiterhin, daß alle Akteure, also alle Elemente der Menge G, entweder ein Interesse am Erhalt des Systems haben, oder ein Interesse am Sturz des Systems haben, oder daß sie in dieser Frage indifferent sind. Wir führen deshalb die Teilmengen „Präferenz für Erhalt“ (E), „Präferenz für Sturz“ (S) und Indifferent (I) der Menge G ein. Weil jeder Akteur A ∈ G zu einer und nur einer dieser drei Teilmengen gehört, gilt:
(1) E ∪ S ∪ I = G
(2) E ∩ S = ∅
(3) E ∩ I = ∅
(4) S ∩ I = ∅
Jedem Akteur A sei zugeordnet eine Nutzenerwartung für den Fall des Regimeerhalts e, sowie eine Nutzenerwartung für den Fall des Regimesturzes s. Es gelte:
(5) Wenn e > s, dann A ∈ E.
(6) Wenn e < s, dann A ∈ S.
(7) Wenn e = s, dann A ∈ I.
Die indifferenten Akteure A ∈ I sind nur der mengentheoretischen Vollständigkeit halber erwähnt, sie spielen keine weitere Rolle und wir werden sie von nun an ignorieren.
Man kann die Differenz zwischen den Summen der Machtwerte aller A ∈ S und aller A ∈ E berechnen. Das Resultat sei genannt Machtdifferenz DM. Also:
Auf dieser Machtverteilung wiederum können wir eine Funktion f (DM) aufbauen, welche die Wahrscheinlichkeit für den Sturz des Regimes, genannt PS abbildet. Als Wahrscheinlichkeit, müssen alle Werte von PS zwischen 0 und 1 liegen, 0 und 1 eingeschlossen also:
(9) Ps = f (DM); wobei gilt: 1 ≥ PS ≥ 0
Da der Regimeerhalt das Gegenereignis des Regimesturzes darstellt, brauchen wir dafür keine eigene Wahrscheinlichkeit mit eigener Funktion, was unsere Sache sehr erleichtert.
Die Funktion f (DM) beschreibt welche Machtdifferenz DM mit welcher Wahrscheinlichkeit zum Sturz des Regimes führt. Wie sie genau aussieht, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Denn was hier in unserem Modell als Variable für eine Funktion daherkommt, das ist in der Wirklichkeit die gesamte Komplexität der politischen Machtverhältnisse. Wir können aber eine begründete Vermutung dafür aussprechen, daß es sich um eine Sigmoide Funktion handelt.4 Also eine Funktion, deren graphische Darstellung eine S-förmige Kurve ergibt. Und zwar aus folgendem Grund:
In einer Welt, in der die Verteilung der Machtmittel die einzige kausale Ursache für Erhalt oder Sturz des Regimes wäre, müssten wir gar nicht mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten. Ein Überschuß der Machtmittel auf der einen oder anderen Seite würde dann sicher zum Sieg dieser Seite führen und für den hypothetischen Fall eines Gleichstandes hätten wir eine exakte Wahrscheinlichkeit von 0,5 für beide Ergebnisse. Es gälte dann:
Das ergäbe eine sehr radikale S-Funktion, die aus zwei Geraden und einem Wendepunkt bestünde.
In der Wirklichkeit in der wir leben, gibt es aber noch eine ganze Reihe andere Kausalursachen für Erhalt oder Sturz eines Regimes. Diese anderen Ursachen sind für unser Modell der Zufall, wodurch die Kurve ihren strengen Determinismus verliert.5
Dieser Zufall ist in der Funktion f (DM) enthalten, über deren genauen Verlauf wir aber wie gesagt nur spekulieren können. Im konkreten Fall kann diese Funktion den merkwürdigsten Verlauf haben, das ist nicht auszuschließen.
Aus diesem Modell ergibt sich, daß es prinzipiell möglich ist, daß ein Problem, welches das Regime geschaffen hat, dazu führen kann, daß sich die Menge der Machtmittel, die das Regime stützen erhöht. Das Problem kann ja beide Erwartungswerte, sowie den Machtmittelwert beeinflussen. Daß ein Regime sich stabilisieren kann indem es seine Unterstützer ermächtigt, während es seine Gegner entmachtet ist trivial. Ein Regime kann es sich leisten zahlenmäßig Unterstützer einzubüßen, wenn dafür die Macht der übriggebliebenen Unterstützer entsprechend steigt.
Aber schauen wir uns einmal die beiden Erwartungswerte eines Akteurs für die Zukunft an. Da ist es ist kein Naturgesetz, daß Veränderungen beider Erwartungswerte, nur weil diese entgegengesetzten möglichen Ereignissen zugeordnet sind, deshalb auch gegenläufig sein müssen. Das heißt, es ist nicht gesetzt, daß ein Ereignis, welches den Erwartungswert für den Fall, daß das Regime an der Macht bleibt senkt, den Erwartungswert für den Fall, daß das Regime stürzt steigen läßt.
Wir werden uns gleich damit befassen, was wir hier eigentlich unter einem Problem verstehen, doch definieren wir es provisorisch einmal als ein Ereignis, welches den Erwartungswert eines Akteurs für den Fall des Regimeerhalts senkt. Alles was dieses Problem tun muß, um den Anreiz zur Regimetreue für diesen Akteur zu steigern ist, seinen Erwartungswert für den Fall des Regimesturzes noch weiter zu senken, als den für den Fall des Regimeerhalts. Die zugrundeliegende Struktur ist keine andere als die, welche man in anderen Zusammenhängen Pfadabhängigkeit nennt.
Damit haben wir zunächst einmal gezeigt, daß es prinzipiell möglich ist, daß die Schaffung von Problemen ein Regime stabilisiert. Daraus ergeben sich eine Frage, die weit schwieriger zu beantworten ist. Die nach den Dynamiken, welche sich in einem System, dessen Stabilität davon aufrecht erhalten wird, daß die Kosten seines Sturzes schneller wachsen, als die Kosten seiner Duldung, im Zeitverlauf ergeben. Was wir gerade aufgezeigt haben, ist die Stabilisierung eines Regimes durch das Auftreten eines Problems in einem einzelnen Zeitabschnitt. Doch was passiert, wenn das wieder und wieder passiert? Wenn neue und neue Probleme auftauchen und alte sich verschärfen?
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