Zum Begriff der politischen Entropie
Das Wort Entropie hat es in den letzten Jahren ins Vokabular der politischen Theorie geschafft. In Anlehnung an die Bedeutung dieses Wortes in der Thermodynamik wird darin eine im Zeitverlauf steigende Unordnung oder ein steigender Verfall beschrieben.
(Bild: Midjourney)
Es mehren sich die Kritiker der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft und ihrer politischen Systeme, welche diese als in sich entropisch beschreiben. Meist beleibt es bei der bloßen Erwähnung dieses Wortes, mit der in etwa ausgedrückt werden soll, daß diese gesellschaftlichen und politischen Systeme in sich eine Neigung zum Verfall, oder zur Ansammlung von innerhalb ihrer eigenen Funktionsweise und Regeln nicht mehr lösbaren Problemen aufweisen.
Ich selbst bin auf dieses Themengebiet über die Befassung mit dem, wie ich meine, entropischen Charakter der Rechte gestoßen. Ich denke, daß die Vergabe von Rechten in einer Gesellschaft ein entropischer Prozess ist, oder es zumindest leicht werden kann und daß viele unserer gegenwärtigen Probleme darauf zurückzuführen sind. Eigentlich sollte hier jetzt also ein Text zur politischen Entropie der Rechte stehen, doch im Verlauf der Ausarbeitung ist mir aufgefallen, welche Faß ich da aufgemacht habe und daß wir zunächst einmal grundsätzlicher an das Problem herangehen müssen. Den Text über die Entropie der Rechte werde ich dann in den nächsten Tagen veröffentlichen.
Der Begriff der Entropie ist aus der Physik übernommen. Freilich, in der Thermodynamik, wie auch in der Informationstheorie, ist das Wort Entropie klar definiert. Im politischen Denken ist es bisher bei groben Analogien geblieben. Es gibt eine Wikipediaseite1, welche sich mit Entropie (Sozialwissenschaften) befasst. Was man hier liest sind über die Jahrzehnte verteilte Versuche, diesen Begriff für irgendein Teilgebiet der Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen, die beiden Hauptströmungen, sind einmal der Versuch aus Entropie ein Maß für die Ungleichverteilung materieller Güter zu machen, andererseits der Versuch im Rahmen einer Umweltsoziologie den Ressourcenverbrauch oder die Umweltbelastung als entropischen Prozess zu charakterisieren. Der Schattenmacher ist einer der Denker unserer Zeit, der immer wieder auf die Entropie als Erklärungsmuster zurückgreift, aber auch in seinem jüngsten Beitrag dazu, physikalische und politische Entropie wild durcheinander gebraucht und am Ende nur feststellt, daß es vielleicht unmöglich sei, die soziale Entropie zu berechnen, kurz nachdem er die Analogie mit der Physik soweit getrieben hat, daß er Internetunternehmen wie TikTok und Tinder vorwirft, die soziale Entropie zu erhöhen und die freiwerdende Energie als monetären Gewinn abzuschöpfen.2 Schon 1997 schrieb Karl-Michael Brunner zur Verwendung des Wortes Entropie für soziale Prozesse:
„Die Übertragung des Entropiekonzepts auf soziale Zusammenhänge kann unterschiedlich vor sich gehen. Konzepte sozialer Entropie, die noch ohne expliziten Bezug zur Natur-Gesellschaft-Differenz formuliert sind, zeichnen sich meist durch eine krude Analogisierung von Entropie (wahrscheinlichkeitstheoretische Fassung) und Gesellschaft aus. Demnach unterliegen soziale Prozesse der Entropie, was mit teilweise bizarren Verfalls- und Niedergangsvorstellungen verbunden wird. Gesellschaftliche Kohäsion wird nach dem Druckmodell interpretiert: soziale Systeme befinden sich im Gleichgewicht, wenn Gesetze, Regeln und Tabus das System halten. Komplexe Gesellschaften werden als hoch entropisch eingeschätzt, allerdings nicht wegen ihres hohen Ressourcen- und Energieverbrauchs, sondern wegen der im Unterschied zu einfacheren Gesellschaften schwieriger durchzusetzenden Normen, Werte und Kontrollen. Gesellschaftliche Ordnung wird mit hoher sozialer Kontrolle und festen Normbindungen gleichgesetzt: je geringer der soziale Zusammenhalt, desto größer die soziale Entropie. Teilweise geht die Verwendung des Entropiebegriffs für das Soziale einher mit Verfallsbildern einer disziplinierenden Zentralinstanz, verbunden mit Klagen über den Mangel an Eliten und Führung. In einer moderateren Version dient die wahrscheinlichkeitstheoretische Fassung des Entropiebegriffs zur Charakterisierung demokratischer, mit egalitärem Anspruch auftretender Gesellschaften. Soziale Entropie meint hier die Auflösung von Strukturen, die zufällige Gleichverteilung von gesellschaftlichen Positionen, Syntropie eine gesellschaftliche Schichtstruktur mit nichtzufälliger Verteilung von Macht, Prestige und Einkommen. Der Erkenntnisgewinn dieses »Konzepttransfers« auf das Feld sozialer Ungleichheit ist allerdings nicht überragend.“3
Dabei ist der Grundgedanke so alt, wie das politische Denken selbst. Schon die Alten, als sie ihre Lehren vom Kreislauf der Verfassungen aufstellten, bemerkten den Verfall als bestimmende Kraft hinter dem Wechsel der staatlichen Schicksale. Eine Polis erhält eine Verfassung, doch mit der Zeit degeneriert die Monarchie zur Tyrannei, die Aristokratie zur Oligarchie und die Demokratie zur Ochlokratie. Dann kommt es zu einem Wechsel der Verfassungen, oder die Polis geht gar ganz unter.
Degeneration oder Verfall für eine Ursache staatlichen oder gesellschaftlichen Niedergangs zu erachten, scheint erst einmal eine Banalität zu sein, ist der Verfall doch ein Phänomen in unserer Welt, das wir überall beobachten müssen, selbst wenn wir es nicht definieren können. Nicht nur der Mensch wird älter. Jedes Zimmer, das nicht regelmäßig gesäubert wird, wird schmutzig. Von jeder Wand platzt irgendwann die Farbe ab und man muß sie neu streichen. Holz verwittert und seit er mit dem Eisen zu arbeiten begonnen hat, kennt der Mensch den Rost. Es ist also naheliegend, das auf die Gesellschaft zu übertragen.
Dieser natürliche Gedankengang steht aber zwei anderen entgegen, die sich ebenfalls sehr häufig finden und den Menschen ebenso natürlich kommen: Einer davon betrachtet den Niedergang als Folge der Abweichung von den richtigen Werten und Normen. Anders als die griechischen Philosophen, welche die Lehre vom Kreislauf der Verfassungen entwarfen, sahen etwa die Juden, die die Bibel geschrieben haben, jedes Unheil ihres Volkes als Folge des Abfalls von Jahwe, der Verehrung anderer Götter und sonstiger Übertretung seiner Gebote. Die Sache mit dem göttlichen Zorn lässt sich durchaus säkularisieren. Religion ist immer in dem Zwiespalt, daß sie gleichzeitig den Einzelnen mit dem Kosmos verbindet, aber auch einer Gesellschaft Regeln auferlegt. In letzterer Funktion macht sie die Verhaltensweisen, die sich bewährt haben zum Willen der Götter. Das erspart Diskussionen. Es ist vor allem bei allen Verboten notwendig, deren Sinn sich dem rational aufgeklärten Menschen nur schwer erschließen, weil die Zusammenhänge zu komplex sind, als daß sie einer beständigen naseweisen Hinterfragung standhalten könnten. Sämtliche Gebote der Sexualmoral fallen darunter. Wir können heute die Folgen ihrer Abschaffung beobachten, aber die Soziobiologie hat gerade erst begonnen zu erforschen, warum diese Folgen auftreten. Da hilft es entsprechende Abarten einfach zur Sünde zu erklären.
Dies ist die genuin konservative Sichtweise, die sich nicht nur praktisch, sondern auch als Weltanschauung säkularisieren läßt, man denke an den Fetisch, der in westlichen Demokratien aus der jeweiligen Verfassung gemacht wird, inklusive der Vorstellung, wenn man zu den Normen der Verfassung zurückkehre, dann werde die Welt schon wieder in Ordnung. Beides, Gottesgebot und Verfassungsfetisch lässt sich übrigens kombinieren. Es hat schon Amerikaner gegeben, welche für ihre Verfassung von 1789 göttliche Inspiration in Anspruch genommen haben. Aber auch progessistische Kräfte können im selben Schema denken, nämlich dann wenn sie ihre Idealgesellschaft dadurch errichten wollen, daß sie neue Werte und Normen durchsetzen. Es ist dies auch die Sichtweise, die sämtlicher Metapolitik zugrunde liegt. Ihre Voraussetzung: Die Werte und Normen bestimmen am Ende die praktische Politik und zwar in die Richtung, die diesen Werten und Normen entspricht. Letzterer Zusatz ist wichtig, weil es ja durchaus denkbar ist, daß die gesellschaftliche Dominanz bestimmter Normen und Werte kausal zu Ergebnissen führt, die diesen Normen und Werten gerade nicht entsprechen.
Wieder anders denken diejenigen, die in der Geschichtsschreibung als Ereignishistoriker bezeichnet werden. Sie schreiben den Sturz eines politischen Systems den Machenschaften seiner Gegner zu, die für sich selbst die Macht an sich reißen wollten. Auch diese Denkweise, finden wir bei den antiken Geschichtsschreibern zuhauf, von der Schilderung der Machtergreifung des Peisistratos, bis zu denen spätrömischer Cäsaren. Diese Sichtweise muß nicht auf Staatsstreiche und Revolutionen beschränkt bleiben. So schrieben die Alten die absonderliche Staatsverfassung und Gesellschaftsform der spartanischen Polis dem Handeln eines einzigen Mannes zu, dem des Gesetzgebers Lycrugos. Andere haben etwa Ludwig den XV. für den Sittenverfall Frankreichs und die folgende Revolution verantwortlich gemacht, während sie das günstigere Schicksal Preußens dem Soldatenkönig und Friedrich dem Großen zuschrieben.
An den Theoretiker stellen alle drei Muster eines politischen Zusammenbruchs unterschiedliche Herausforderungen. Machtergreifung, falsche Werte und Normen, sowie Verfall spielen sich auf unterschiedlichen Ebenen ab.
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