In einem formalen Sinne, ist das hier der politikwissenschaftlichste Text den ich bisher an dieser Stelle veröffentlicht habe. Der Grund ist einfach: Es geht um die europäische Einigung.
Als Audiotext.
(Links: Gamal Abdel Nasser Quelle:https://de.wikipedia.org/wiki/Gamal_Abdel_Nasser#/media/Datei:Nasser_in_1969.jpg
Rechts: Wappen der Vereinigten Arabischen Republik: https://de.wikipedia.org/wiki/Vereinigte_Arabische_Republik#/media/Datei:Coat_of_arms_of_the_United_Arab_Republic_(1958%E2%80%931971).svg)
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Es ist nichts ungewöhnliches, daß im öffentlichen Diskurs eine Seite die Grundlagen der Thematik konsequent ignoriert. Die Debatte selbst degeneriert dann zwar zu dem, was Martin Lichtmesz als „Ich sehe was, was du nicht siehst.“, bezeichnet hat, daß aber die Grundlagen von fast allen ignoriert werden, daß hebt die europäische Frage unter allen großen Fragen der Gegenwart auf eine besondere Stufe der Verwirrung.
Beginnen wir mit den verschiedenen gängigen Positionen: Da gibt es zunächst diejenigen, die mit Imponderabilien argumentieren. Also solche, für die entweder ihr jeweiliger Nationalstaat, oder aber die angestrebte europäische Einheit in sich ruhender Selbstzweck sind. Die ersteren sehen in Brüssel nichts, als eine bestimmte Fremdherrschaft, die nicht inhärent besser ist, als es eine durch Türken oder Chinesen wäre. Die letzteren blicken auf Europa wie einst deutsche und italienische Nationalisten auf ihre zersplitterten Nationen.
Es ist sinnlos, mit solchen Leuten zu diskutieren, freilich genauso absurd, sich über ihre angebliche Irrationalität lustig zu machen. Am Ende des Tages sind Imponderabilien der Fluchtpunkt noch der pragmatischsten Tagespolitik, schlicht weil Mittel ohne Ziel sinnlos sind. Die Frage ist im Einzelfall nur, was unverhandelbar ist. Tatsächlich sind die beiden bisher erwähnten Lager diejenigen, die von dem oben erhobenen Vorwurf an den Grundlagen der Thematik vorbeizupalavern freizusprechen sind. Aus ihrer Perspektive sind die schlichtweg gleichgültig.
Anders ist das für diejenigen, die auf die eine oder andere Weise mit einer Selbstbehauptung im 21. Jahrhundert argumentieren. Auch diese können für oder gegen eine europäische Einigung sein, oder auch für eine europäische Einheit, aber gegen die real existierende Europäische Union.
Da stellt sich dann nämlich die naheliegende Frage: Worauf soll eigentlich diese Selbstbehauptung begründet werden? Die einfache Antwort lautet: Macht! Würde man Macht im Sinne der Definition Max Webers verstehen: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“1, so wäre schon viel geholfen. Denn Weber führt weiter aus:
„Der Begriff »Macht« ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.“2
Doch wenn von Macht die Rede ist, wird diese allzuoft mit den Machtmitteln verwechselt. Also mit Bevölkerungszahl, Bruttoinlandsprodukt, Truppenstärke, aber auch der Anzahl der angemeldeten Patente, oder der international erfolgreichen Filme. Der Grund für die Verbreitung dieses Denkfehlers ist folgender: Machtmittel sind teilweise ineinander umtauschbare Güter.
Der Vergleich mit dem Geld macht das Problem deutlich: Wie eine Geldsorte, die in bestimmten Ländern oder von bestimmten Händlern akzeptiert wird und von anderen nicht und deren Kurs dazu noch im Zeitverlauf schwankt, so können bestimmte Machtmittel in bestimmten Situationen zur Erreichung bestimmter Ziele besser oder schlechter geeignet sein. Sie können auch je nach Zeit und Lage besser oder schlechter geeignet sein, um andere Machtmittel zu erwerben.
Deshalb ist es weder richtig zu sagen, daß Machtmittel nur für bestimmte Ziele eingesetzt werden können, es also so etwas wie die allgemeine Macht eines Akteurs nicht gibt, noch ist es richtig, daß Machtmittel beliebig ineinander umgetauscht werden können und ein beispielsweise militärisch starker Staat sich damit automatisch eine starke Wirtschaft verschaffen kann.
Die Frage nach der Umtauschbarkeit von Machtmitteln ist nie mit 0 oder 1 zu beantworten, sondern immer mit einem Wert dazwischen. Wollte man nun die Umtauschverhältnisse aller Machtmittel messen, deren sich Staaten bedienen, so erhielte man selbst im Falle, daß die Messungen gelingen, eine absurde Tabelle von Umtauschverhältnissen an der der gewiefteste Devisenhändler verzweifeln würde.
Das Gesamtverhältnis ist für den menschlichen Verstand um Größenordnungen zu komplex. Deswegen behelfen wir uns mit der Abstraktion „der Macht“, über die dieser oder jener Akteur verfüge.
In der Europadebatte führt dies regelmäßig zu einem Argument der Addition ebensolcher Machtmittel. Dann wird die Frage gestellt: Welche Summe an Machtmitteln muß man denn haben, um in der Welt des 21. Jahrhunderts zu bestehen?
Wie die Antwort zu finden sei, das scheint durch die Frage vorgegeben. Man schaue sich einfach die Machtmittel der anderen Großmächte der Epoche an. Das hat zunächst etwas für sich. Vielmehr: Es scheint geradezu die Konsequenz der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu sein. Abstrahiert man von allen Details ab, so bleibt die Tatsache, daß die Vereinigten Staaten durch ihre schiere Existenz neu definierten, was eine Macht ersten Ranges war und daß die europäischen Großmächte des 19. Jahrhunderts nach eben dieser Definition keine Mächte ersten Ranges mehr waren. Diese Tatsache steht jenseits aller kontrafaktischen Geschichtsschreibung, sie wäre auch dann zur Entfaltung gekommen, wenn Roosevelt und Hitler, Churchill und Stalin nie geboren worden wären, wenn auch möglicherweise in ganz anderer Art, als sie es dann tatsächlich tat. Die nahezu identische geopolitische Struktur des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, trotz aller diplomatischen und weltanschaulichen Unterschiede an der Oberfläche, bezeugt dies.
Quantität und Qualität seiner Bevölkerung sind in der Tat ein sehr guter Indikator für die Machtmittel eines Staates, schlichtweg weil es diese Bevölkerung ist, die die meisten anderen Machtmittel erzeugt. Wenn es nicht intern zerfällt, so ist das chinesische Milliardenvolk dazu bestimmt, den Maßstab für eine Großmacht des 21. Jahrhunderts zu legen. Angesichts der Zahl von über einer Milliarde Chinesen mit einem Durchschnittsintelligenzquotienten über der 100er Marke, könnte man sogar versucht sein zu glauben, daß die nur 500 Millionen Europäer noch zu wenige wären, um sich in der Welt von Morgen zu behaupten.
Wäre dies tatsächlich so, dann gäbe es, wie der 2014 verstorbene Kritiker der europäischen Gemeinschaftswährung Wilhelm Hankel anzumerken pflegte, nurmehr Dinosaurier und die Eidechsen wären längst ausgestorben.
Dieser Satz beinhaltet übrigens die fundamentalste Kritik der Theorie des offensiven Realismus von John Mearsheimer. Diese besagt, stark verkürzt, daß Staaten aus Sicherheitsinteresse ihre Macht maximieren. Die Welt sei ein anarchisches System und da es in einem anarchischen System keinen Richter gebe, bedrohe jeder jeden und jeder versuche seine Macht so weit wie möglich zu steigern, um sich vor den anderen zu schützen, die dasselbe tun. Jeder steigere dadurch die Bedrohung des anderen. In einem Kreislauf versuchten alle, ihre Macht zu maximieren. Die Triebfeder dieser „Tragödie der Großmachtpolitik“, sei dabei nicht Eroberungstrieb, sondern allein schon die Suche aller Beteiligten nach Sicherheit, die jeder nur gewinnen könne, indem er seine eigene Macht steigere, damit aber automatisch andere bedrohe und deren Sicherheit damit verringere.3
Das Argument: „Europa muß einig werden, weil es eine Milliarde Chinesen gibt!“, folgt dieser Logik des offensiven Realismus. Diese Logik der mearsheimerschen Theorie ist in sich nicht zu bestreiten. Die von ihr beschriebene Konstellation des gegenseitigen Strebens nach Sicherheit zwischen rivalisierenden Mächten, ist auch in zahlreichen Fällen zu beobachten. Mearsheimer hat eine wichtige Teiltheorie der internationalen Politik gebildet. Und mehr hat er für sich selbst auch nie in Anspruch genommen.
Aber gerade weil das treibende Motiv in Mearsheimers Theorie das Überleben ist, trifft der Hinweis auf Dinosaurier und Eidechsen: Wenn Machtmaximierung die beste Garantie des Überlebens wäre, dann dürfte es höchstens eine Handvoll Staaten auf diesem Planeten geben. Die UNO zählt zum gegenwärtigen Zeitpunkt 193 allgemein anerkannte Staaten. Diese Tatsache allein beweist, daß Mearsheimers Theorie eine gewaltige Lücke hat. Wie diese zu schließen ist, ist eine andere Frage.
In der Biologie hat jedes Tier eine ökologische Nische. Seine Macht zu überleben hängt vom Besitz der Machtmittel ab, die zur Behauptung in dieser ökologischen Nische notwendig sind. Das sind für eine Eidechse andere, als für einen Dinosaurier.
An dieser Stelle gerät der Vergleich jedoch ins Stocken. Der Grund dafür, daß kleine Tiere sich oft gegenüber den Katastrophen der Erdgeschichte resilient gezeigt haben, während die Megafauna ausstarb, liegt daran, daß sie im Verhältnis zu ihrer Körpermasse geringerer Belastung ausgesetzt sind und einen geringeren Energiebedarf haben. Wird die Nahrung knapp, sterben Apexräuber und tonnenschwere Pflanzenfresser, die den ganzen Tag fressen müssen um ihren Energiehaushalt zu decken, zuerst aus. Gleichzeitig beschränkt die Physik wie groß ein Tier überhaupt werden kann. Für Wirbeltiere haben an Land die Sauropodae und im Wasser die Walfische das äußerste Maximum dessen ausgereizt, was unter den Gravitationsbedingungen der Erde überhaupt möglich ist.
Staatsgröße wird nicht durch die Gravitation beschränkt und ein Volk von hundert Millionen frisst ceteris paribus einhundert Mal so viel, wie ein Volk von einer Million, nicht eintausend Mal. Die Frage ist also: Welche Faktoren der Soziologie entsprechen als Grenzen der Größe von Staaten den energetischen und physikalischen Grenzen in der Evolution der Tiere?
Die Antwort auf diese Frage könnte vielen Doktorarbeiten das Thema geben und manchen Professor sein Leben lang beschäftigen. Ein Professor der sich dies tatsächlich zur Aufgabe gemacht hat, ist der in Rußland geborene Peter Turchin von der Universität von Connecticut. Seine Forschungen kamen zu dem Ergebnis, daß die Fähigkeit zur von ihm so betitelten „Ultrasozialität“, der Fähigkeit zum Zusammenhalt großer Gruppe, die weit über die Grenze des persönlichen Bekanntenkreises hinausgehen, eine Folge evolutionären Druckes sind, der weitestgehend durch den Kampf mit anderen Gruppen entsteht.4 Die für unsere Frage der europäischen Einigung wesentliche Folge ist, daß es sich dabei nicht um situationsabhängige Einsichten in irgendeine Lage handelt, sondern um ererbte, genetisch wie kulturell weitergegebene Instinkte, welche sich über viele Generationen aufbauen müssen. Sie lassen sich nicht verordnen und auch durch ideologische Indoktrination nur sehr begrenzt herstellen. Ist der Hang dazu, in einer bestimmten Gemeinschaft zusammenzuleben einmal da, bleiben sie aber auch noch über Generationen erhalten. Aufstieg und Untergang von Völkern und Reichen hängt am Wachsen oder Schwinden dieser Fähigkeit zum Gruppenzusammenhalt, welche Turchin nach dem arabischen Geschichtsschreiber Ibn Chaldun (1332-1406) „Asabiya“ nennt.
Alle bisherigen Großreiche der Geschichte entstanden an dem, was Turchin „metaethnische Bruchlinien“ nennt. Grenzregionen in denen zwei völlig verschiedene Kulturen und Lebensweisen aufeinandertrafen. Mit dem völlig Anderen konfrontiert, entwickelte sich hier nicht nur ein besonders starker Gruppenzusammenhalt, die Völker auf der eigenen Seite der metaethnischen Bruchlinie, mit denen man anderswo sogar regelmäßig im Krieg gewesen wäre, wurden zunehmend als Teil der eigenen Gruppe wahrgenommen. Anstelle von Klein- und Stadtstaaten entstanden in diesen Grenzregionen die Kerne von Großreichen.5
In der hinter uns liegenden Agrarepoche war die mit gewaltigem Abstand fruchtbarste metaethnische Bruchlinie die klimatische Grenze, welche das Bauernland von der Steppe trennte. Die Wehrbauern und Nomadenkrieger auf beiden Seiten dieser Grenze waren die Begründer von über 90% aller Reiche, die über eine Million Quadratkilometer unter ihre Kontrolle brachten.6 Die Agrarzeit liegt hinter uns und die Reiterkrieger der Steppe sind heute ein technologischer Anachronismus. Doch selbst am heutigen Tage führen die drei mächtigsten Staaten der Welt ihren Ursprung auf die Steppengrenze zurück. Rußland und China verdanken ihre Existenz als geeinte Staaten beide jahrhundertelangem Kampf gegen die Mongolen und andere innerasiatische Nomaden. Das Volk der Amerikaner entstand im brutalen Kampf gegen die Indianer, der erst im 19. Jahrhundert zu der einseitigen Vertreibung in Reservate wurde, als den wir ihn in Erinnerung haben. In der Jugend der Gründerväter kam es immer wieder vor, daß die Rothäute eine Stadt überfielen und die Bevölkerung bis aufs letzte Kind niedermetzelten.7
Ein geeintes Europa lässt sich also weder herbeidekretieren, noch durch ideologische Formierung erzeugen. Man könnte einwenden, daß die Massenmigration in Europa eine metaethnische Bruchlinie geschaffen habe. Das ist richtig, nur wissen wir erstens nicht, wie eine solche Linie, die eben keine Linie ist, sondern eine Durchmischung der Bevölkerung, die sich allenfalls auf Ebene von Stadtvierteln wieder sortiert, wirken wird. Zweitens würde eine Ethnogenese der „Europäer“ anhand dieses Bruches nach allen Erfahrungen ein bis zwei Jahrhunderte dauern. Drittens schließlich ist das Hauptziel aller rechten Bewegungen die Remigration dieser Menschen, womit der metaethnische Bruch entfiele.
Das, was wir heute als Europäische Union kennen, ist, auch wenn es ein Eigenleben hat und nicht einfach unter der Kontrolle Washingtons steht, doch ein Artefakt der amerikanischen Hegemonie auf unserem Kontinent. Seit Charles de Gaulle sind alle Versuche, die europäische Einigung nach Schumann und Monet unter amerikanischer Schirmherrschaft zur Bildung eines eigenen geopolitischen Pols zweckzuentfremden, bereits in den Windeln gestorben.
Wenn es hier noch einen Zeugen braucht, so gibt es dafür keinen Besseren, als den Mann, der diesem Text seinen Namen verliehen hat: den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser (1918-1970):
Nach dem Putsch von 1952 im Jahre 1954 endgültig an die Macht gelangt, erreichte er am 1. Februar 1958 die friedliche und freiwillige Vereinigung Ägyptens mit Syrien zur Vereinigten Arabischen Republik. Nordjemen schloß sich lose an. Die arabische Welt war damals gerade von der Kolonialherrschaft unabhängig geworden. Der Panarabismus, eine Ideologie, die einen gemeinsamen Staat aller Araber anstrebte, war weit verbreitet, gerade unter den Gebildeten und Wohlhabenden. Die Offiziere, mit denen Nasser geputscht hatte, waren zum großen Teil Panarabisten. Die Baath-Partei, die bis heute in Syrien herrscht, entstammt der panarabischen Bewegung. Im Irak kam dieselbe Partei (offiziell trennten sich die syrische und die irakische Baath-Partei erst 1966) 1963 an die Macht und herrschte bis zum Sturz Saddam Husseins 2003. Die Panarabisten hatten viel mehr für sich, als alle heutigen Paneuropäer von Rechts. Doch weder Ideologie, noch der Wunsch, sich in der aktuellen Lage gegen alte Kolonialherren und neue (amerikanische) Imperialisten zusammenzuschließen, reichten aus, die tausend Fliehkräfte zu bändigen, die an jedem größeren Gemeinwesen zerren. Umso mehr, umso heterogener es ist. Bei der Machtergreifung der irakischen Baathisten gab es bereits keine Vereinigte Arabische Republik mehr, der sie hätten beitreten können. Syrien wie Nordjemen hatten die Union schon 1961 wieder verlassen. Ägypten behielt den leeren Namen noch bis ins Jahr 1972, zwei Jahre nach Nassers Tod, bei.
Trotz seiner inzwischen 111 Millionen Einwohner ist Ägypten heute keine führende Macht innerhalb des Mittleren Ostens mehr. Nassers Erben sind eine Junta von Washingtons Gnaden, die in beständiger Angst vor einem neuen Aufstand der Muslimbrüder lebt. Die Fackel ging auf Staaten über, die keine panarabischen Seifenblasen verfolgten, sondern ihre Kraft, mag sie auch noch so beschränkt gewesen sein, an eine eigenständige, an der Wirklichkeit orientierte Politik verwendete hatten. Saudi-Arabien, der Iran und die Türkei. Allesamt muslimisch, doch nur das erste ist arabisch, und auch dieses gewiss nicht panarabisch. Das ist die Frucht des Nasserismus.
Mit welchen Wirklichkeiten haben wir in Europa zu rechnen? Außer der, daß es ein europäisches Volk nicht gibt und ein solches nicht willentlich geschaffen werden kann? Der Mittlere Osten ist dafür tatsächlich ein gutes Lehrstück.
Seit Zbigniew Brzeziński (1928-2017) ist es unter einer gewissen Sorte amerikanischer Geopolitiker üblich geworden laut auszusprechen, daß das Ziel der Vereinigten Staaten seit dem Ersten Weltkrieg darin bestünde, zu verhindern, daß eine weitere geographische Großregion entsteht, die sich auf die selbe Weise unter einer sicheren Hegemonie befindet, wie Nordamerika unter der der Vereinigten Staaten.8 Was die Weltkriegsära betrifft, so darf man nicht vergessen, daß es sich hierbei um eine Deutung handelt, die den Ereignissen über ein halbes Jahrhundert später gegeben wurde.
Doch wer genau liest, merkt schnell, daß es ihm und anderen, wie dem Stratfor-Gründer George Friedman, nicht um die Vergangenheit geht, sondern um die Gegenwart und die Zukunft: Um die weltweite Hegemonie der Vereinigten Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion und die Möglichkeit ihrer Bewahrung. Was letzteres anbelangt sind die Vereinigten Staaten sichtbar gescheitert und zwar nicht zuletzt deshalb, weil China eine zweite Region geschaffen hat, Ostasien, in der es genauso unbestritten und unangreifbar ist, wie die Vereinigten Staaten in Nordamerika.
Der 28 Jährige Abraham Lincoln sagte in einer seiner frühen politischen Reden:
„Alle Armeen Europas, Asiens und Afrikas zusammen, mit allen Schätzen der Erde (außer unseren eigenen) in ihrer Kriegskasse, mit einem Bonaparte als Befehlshaber, könnten keinen Schluck aus dem Ohio, noch einen Weg durch die Blue Ridge Mountains erzwingen, nicht wenn sie es tausend Jahre lang versuchten. Von woher ist dann Gefahr zu erwarten? Ich antworte: Wenn sie uns je erreicht, dann muß sie unter uns aufkommen; sie kann nicht von außen kommen.“9
Tausend Jahre sind eine lange Zeit, um eine Prophezeiung Lügen zu strafen, doch bis in unsere Tage hat Lincoln recht behalten. Nur, seit China in der technologischen Moderne angekommen ist, gilt was Lincoln über den Ohio und die Blue Ridge Mountains sagte, auch auch für den Wei-He und die Taihang-Shan. Beide Großmächte unserer Zeit können nur von innen heraus zerfallen. Möglicherweise wird dies ohne eine Steppengrenze, an der sich die Asabyia Chinas zwei Jahrtausende lang verjüngt hat, auch in den nächsten Jahrhunderten passieren, doch wollen wir nicht zu sehr über die geschichtlichen Gesetze nach dem Ende der Agrarzeit spekulieren.
Ostasien und Nordamerika sind damit die beiden Regionen der Erde, welche von einer regionalen Hegemonialmacht gesichert und vor dem Zugriff anderer Mächte abgeschirmt werden. (Ja, die Amerikaner sitzen aus historischen Gründen noch in Südkorea. Doch wer glaubt, daß sie sich dort im Falle eines offenen Krieges mit China halten könnten, leidet unter Wahnvorstellungen. Eher noch ist zweifelhaft, ob die Vereinigten Staaten mit den mexikanischen Kartellen fertig würden, selbst wenn sie es ernsthaft probierten.)
Diesen abgeschlossenen Weltregionen, die faktisch, nicht gemäß der Forderung irgendeines multipolaristischen Intellektuellen, Großräume mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte10 sind, stehen anderen Weltregionen gegenüber, die es nicht sind und keine Perspektive haben, es zu werden.
Unter diese fällt seit jeher der Mittlere Osten. Mit dem Rückgang der amerikanischen Seeherrschaft wird sich Südamerika hinzugesellen. Auf Afrika trifft dies ebenfalls zu nur kommt hier noch obendrauf, daß es kaum in der Lage ist, funktionierende Staatlichkeit herauszubilden. Indien könnte in sich selbst unangreifbar werden, nur entsprechen sein Möglichkeiten zur Machtentfaltung, aufgrund der anhaltenden Unterentwicklung, nicht ansatzweise der Bevölkerungszahl von über 1,4 Milliarden. Dann gibt es noch eine Reihe von Sonderfällen. Der wichtigste ist ohne Zweifel Zentraleurasien.
Das Zentrum dieser Region, die Halford Mackinder einst als als „Herzland“ bezeichnete und zum Zentrum eines zukünftigen Welthegemons bestimmt sah11, ist Rußland. Rußland ist bevölkerungsmäßig zu klein um in 21. Jahrhundert eine Macht ersten Ranges zu bilden und tut sich schwer darin, seine Umgebung, das “nahe Ausland”, oder die “russische Welt” zusammenzuhalten. Doch die vom Meer abgeschirmte Kontinentallage macht klassische Seemachtinterventionen schwierig.
Dann ist da noch Europa. Europa befindet sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt unter amerikanischer Hegemonie. Ich habe früher schon dargelegt, daß Deutschland sich schon in der Vergangenheit, unter günstigeren Bedingungen als jetzt, als zu klein erwiesen hat, um Europa zuverlässig, unabhängig vom wankelmütigen Kriegsglück, geostrategisch abzuschirmen und in einen Großraum mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte zu verwandeln. Die europäische Friedensordnung seit 1945 beruht auf dem Gegenteil: Auf der Hegemonie einer raumfremden Macht.
Sollte diese Hegemonie bestehen bleiben, etwa dadurch, daß Europa in einer neuen Blockkonfrontation fest auf der amerikanischen Seite des Eisernen Vorhanges bleibt, dann wird dieser Zustand andauern. Um unsere Außenpolitik müssen wir uns dann freilich keine Gedanken machen. In den wesentlichen Fragen, Migration und Bevölkerungspolitik, noch nicht einmal mehr um unsere Innenpolitik.
Sollte der amerikanische Griff sich lösen, wollen wir ihn gar selbst lockern, dann aber müssen wir die Realitäten im Auge behalten: Europa wird sich ohne amerikanische Hegemonie dem Mittleren Osten und seiner eigenen Vergangenheit angleichen. Es wird eine Weltregion sein, in der mehrere regionale Mächte miteinander in wechselvollen Konstellationen konkurrieren. Interventionen raumfremder Mächte werden immer unter logistischen Beschränkungen leiden, aber grundsätzlich möglich sein. Vor allem aber werden Bündnisse mit raumfremden Mächten, auch und gerade gegen andere Europäer, zu den Machtmitteln zählen, auf die kein europäischer Staat wird verzichten können. Die Macht und die Machtmittel, die ein europäischer Staat benötigen wird, werden diejenigen sein, die er brauchen wird, sich in seiner Nische des europäischen Ökosystems gemäß seiner Größe zu behaupten. Nicht diejenigen, um mit China in einen Wettlauf um Afrika einzutreten.
Das heißt nicht, daß man die gegebenen, sogenannten europäischen Institutionen nicht nutzen soll. Aus mangelndem Glaube an den maastrichter Papierfetzen auf Repräsentation in Brüssel zu verzichten, wäre die Haltung kindischer Trotzköpfe. Institutionen, mögen sie zustande gekommen sein, wie sie wollen, gehören zu den Gegebenheiten, zwischen denen sich eine neue politische Kraft erst einmal zurecht finden muß. Es beutet aber, daß man sich über die Natur und die Belastbarkeit dieser Institutionen keinen Illusionen hingibt.
Es bedeutet ganz entschieden mit und für die gewachsene politische Einheit der Deutschen Politik zu machen. Nicht für eine Seifenblase namens Europa.
Ägypten hat für den Nasserismus mit seiner nach der Unabhängigkeit bestehenden Vormachtstellung innerhalb der arabischen Welt bezahlt. Vorerst, wie man hinzufügen möchte, denn es ist nach wie vor mit Abstand das bevölkerungsreichste arabische Land und der Nil, der einen Streifen fruchtbarsten Landes inmitten der Wüste hervorbringt, hat seit fünftausend Jahren seine territoriale Integrität stets erneuert.
Deutschland hingegen liegt in der Mitte Europas. Es hat im letzten Krieg ein volles Viertel seines Staats- und Siedlungsgebietes verloren. Wir sind auf das Mindeste dessen zusammengeschrumpft, mit dem wir noch hoffen dürfen, uns inmitten dieses unbeständigen Kontinents zu halten.
Noch so eine Katastrophe können wir uns nicht leisten!
Weber, Max (1921): Wirtschaft und Gesellschaft, Erster Teil: Soziologische Kategorienlehre, Kapitel 1: Soziologische Grundbegriffe, §16.
Ibid.: §16,1.
Mearsheimer, John (2001): The Tragedy of Great Power Politics, New York.
Turchin, Peter (2016): Ultrasociety, How 10,000 years of war made humans the greates cooperators on earth, Chaplin, Connecticut.
Turchin, Peter (2006): War and Peace and War, New York.
Turchin, Peter (2009): A Theory for Formation of Large Empires, in: Journal of Global History 4, S. 191-207.
Turchin, Peter (2006): War and Peace and War, New York, Teil 1, Kapitel 2.
Brzeziński Zbigniew (1997): The Grand Chessboard, American Primacy and Its Geostrategic Imperatives, New York.
Lincoln, Abraham (1838): Lyceum Address, Springfield, Illinois.
Schmitt, Carl (1941): Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für Raumfremde Mächte, ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Berlin.
Mackinder, Halford (1904): The Geographical Pivot of History, in The geographical Journal, Band 23, Nr. 4, S. 421-437.
Sehr guter Text