Nancys Peitsche für unbotmäßige Unionsabgeordnete
Friedrich Merz ist im ersten Wahlgang durchgefallen. Das erklärt, was die Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextrem“ eigentlich sollte. CDUler zur Wahl ihres eigenen Spitzenkandidaten prügeln!
(Nancy Faeser: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)
Eigentlich wollte ich heute eine inhaltliche Analyse der Hochstufung der AfD zur „gesichert rechtsextremen“ Partei veröffentlichen. Die Begründung über den ethnischen Volksbegriff hat bereits zur ein oder anderen innerrechten Grundsatzdebatte geführt. Vor allem aber hat der Verfassungsschutz dabei unfreiwillig die Wunde aufgerissen, die seine politischen Auftraggeber selbst der Verfassungsrealität zugefügt haben. Aber jetzt ist Friedrich Merz im ersten Wahlgang zum Bundeskanzler durchgefallen, also muß das warten.
Was ist da gerade passiert? Zur Zeit wird darüber spekuliert, ob es Unions-, oder SPD-Abgeordnete waren, die Merz durchfallen ließen. Die wahrscheinlichste Antwort darauf ist: Beides. In beiden Parteien hat es nach der Wahl sichtlich rumort. Aber die Frage ist falsch. Die richtige Frage lautet: Auf wie viele Abgeordnete könnte die schwarz-rote Koalition verzichten? Oder umgekehrt: Wie viele der prinzipiell Unzufriedenen müssen die Parteiführungen beider Koalitionspartner dazu bewegen, trotzdem für Merz zu stimmen? Union und SPD haben zusammen 328 Abgeordnete. 310 stimmten für Merz. Die absolute Mehrheit liegt im gegenwärtigen Bundestag bei 316. Die Schlagzeile, daß 6 Stimmen gefehlt hätten ist also sachlich richtig, aber etwas irreführend. Insgesamt haben 18 Abgeordnete der Möchtegernkoalitionsparteien nicht für Merz gestimmt.
Oder um es aus der Perspektive der Parteiführungen vor der Kanzlerwahl zu betrachten: Es war bekannt, daß sowohl in der Union, als auch in der SPD nicht jeder mit der neuen Koalition einverstanden ist. Die Gründe sind gegensätzlich, die Unionsabweichler sind vom rechten, die SPD-Abweichler vom linken Flügel ihrer jeweiligen Parteien. Aber die Koalitionsparteien haben 12 Abgeordnete mehr, als erforderlich sind. Auf 12 kann man also für die Kanzlerwahl verzichten. Das heißt, wenn nicht mehr als 12 der 120 Abgeordneten der SPD aus der Fraktionsdisziplin ausbrechen, dann bekommt man Merz und mit ihm die Koalition durch, wenn die Union geschlossen führ ihn stimmt. Je kleiner der Anteil der Abweichler innerhalb der SPD, desto mehr Abweichler darf es natürlich in der Union geben. Soweit trivial. Das Entscheidende ist. Aus Sicht der Parteiführungen vor der Kanzlerwahl war die Situation nicht: Uns fehlen 6 Stimmen. Sondern: Wir müssen 316 aus 328 Abgeordneten dazu bringen für Merz zu stimmen. Und auch jetzt (ich schreibe dies vor Merzens zweitem Versuch) besteht die entscheidende Frage darin, ob man 6 aus 18 dazu bewegen kann, im zweiten Wahlgang ihr Wahlverhalten zu ändern. Das alles geht in der Schlagzeile: „6 Stimmen fehlen!“, unter, deshalb führe ich das hier so breit aus.
Aber, versetzen wir uns jetzt in die Lage der SPD-Führung. Die Führung weiß, daß man im eigenen Lager einige Unbelehrbare hat. Und es sind wirklich Unbelehrbare. Die Koalitionsverhandlungen liefen auf die bedingungslose Kapitulation der Union hinaus. Eigentlich hätte man die Kanzlerwahl auf den 8. oder 9. Mai, anstatt auf den 6. legen müssen. Na ja, vielleicht sorgt das jetzige Theater ja dafür, daß Merz an einem dieser beiden Tage Kanzler wird. Ulkig wär’s.
Aber wer sich als SPD-Abgeordneter jetzt weigert Merz zu wählen, weil der ein neoliberaler Faschist oder irgendsoein Unfug sei, der hat den Schuß nicht gehört. Die SPD hat aus einer krachenden Wahlniederlage einen totalen Verhandlungssieg gemacht. Darüber vergaß man bis vor wenigen Stunden, wie hoch Klingbeil hier gepokert hat. Der einzige Grund, aus dem die SPD irgendetwas fordern konnte, der einzige Grund, aus dem sie für die Union als Koalitionspartner überhaupt infrage kam, geschweige denn unverzichtbar war, ist die Brandmauer. Von dieser Brandmauerdoktrin kann sich die Union aber jederzeit verabschieden. Tatsächlich ist sie für die Union nicht nur sinnlos, sondern hochschädlich geworden. Die Brandmauer gegen Rechts war aus Sicht der Union sinnvoll, solange man damit das Aufkommen von Parteien rechts der Union verhindern konnte. Die Grundübereinkunft des bundesrepublikanischen Parteienkartells bestand darin, daß die linken Parteien die gesamtgesellschaftliche Entwicklung vorgeben und die Union als retardierendes konservatives Element die Wählerstimmen der Mehrheit derjenigen abgreifen konnte, die nicht nach links will, aber außer der Union nichts anderes zu wählen hatte. Das hat die AfD verändert und es ist nicht ersichtlich, wie das Parteienkartell das auf demokratischem Wege wieder rückgängig machen könnte. Es hat ja seinen Grund, weswegen Leute wie Wanderwitz, die zum alten Parteienkartell zurückwollen, das Verbot der AfD fordern: Es wäre die einzige Chance, ihr Ziel zu erreichen.
Dadurch hat sich aber für die Union die Lage gedreht. Früher machte die Brandmauer die Union zuverlässig zur stärksten Partei. Während die SPD sich das linke Wählerspektrum erst mit den Grünen, dann auch noch mit der Linkspartei teilen musste, konnte die Union das gesamte rechte Wählerspektrum abgreifen und von dort um die Mitte kämpfen, ohne rechte Wähler an einen Konkurrenten zu verlieren. Perfektioniert hat das Angela Merkel, die wie niemand sonst die ungeschriebene Kartellabsprache zwischen den Altparteien verkörperte: 16 Jahre Dominanz der Union bei gleichzeitigem Abwurf auch der letzten konservativen Restposten.
Diese Zeit ist nun unwiederbringlich vorbei. Vor der Bundestagswahl hatte ich ja auf Schwarz-Blau als nächste Regierung gewettet (hier und hier) und nun, wer weiß, vielleicht gewinne ich diese Wette doch noch? Auch wenn ich zugeben muß, mich in Friedrich Merz geirrt zu haben. Nach der Kampfabstimmung im Bundestag über die Flüchtlingsbegrenzung sah er etwas stärker aus als jetzt. Aber der Grund für meine Prognose war nicht, daß ich davon ausging, daß die Union auf einmal zu ihre vaterländische Verantwortung findet, sondern davon, daß die Union genügend Machterhaltungstrieb und politische Klugheit besitzt, um zu sehen, daß sich die Zeiten geändert haben. Wenn die Union an der Brandmauer festhält, dann wird sie an der Brandmauer zerrieben. Wenn nichts anderes, dann haben die letzten beiden Monate das gelehrt. Sie wird dann von links programmatisch erpresst und verliert ihre Wähler an die AfD.
Es ist allein die Trägheit, die die Union noch an der Brandmauer festhalten lässt. Allein die Angst jedes einzelnen Spitzenfunktionärs der Union davor, der erste zu sein, der das Offensichtliche ausspricht. Das muß man im Kopf haben um zu begreifen, wie hoch der Einsatz für die SPD ist. Für Merz hängt an dieser Kanzlerwahl sein Lebenstraum, aber die breite Mehrheit der Union könnte darauf verzichten. Für die SPD hängt an Merzens Kanzlerschaft die Zukunft der Partei. Wenn die Brandmauer bricht, dann ist die SPD eine mittelgroße Partei auf dem absteigenden Ast.
Sehen wir uns einmal die Alternative an, die der Union nämlich bleibt: Die mit der Alternative. Union und AfD haben zusammen 359 Sitze. Vor dem Austritt Sieghard Knodels aus der AfD aufgrund deren Einstufung als “gesichert rechtsextrem”, waren es sogar einer mehr. Statt nur 12 könnte eine schwarz-blaue Koalition ganze 43 Abweichler ertragen. Oder in Prozenten ausgedrückt: 12 aus 328, das sind 3,7% Abweichlertoleranz für Schwarz-Rot. 43 aus 359, das sind ganze 11,9% Abweichlertoleranz für Schwarz-Blau. Wenn gesagt wird, daß Schwarz-Blau unmöglich wäre, weil dabei ein Teil der Abgeordneten rebelliert, nun dasselbe Problem hat man jetzt auch. Schwarz-Blau könnte sich aber einen mehr als dreimal so hohen Anteil an Rebellen erlauben.
Die Abstimmung im deutschen Bundestag zum Zustrombegrenzungsgesetz vom 31. Januar 2025 war im Kern eine Abstimmung innerhalb der Unionsfraktion darüber, wie viele der Abgeordneten bereit seien, der Parteiführung zu folgen, wenn diese die Brandmauer einreißt. Das Ergebnis war1: 184 von 196 dafür. Die zwölf verbliebenen Merkelianer enthielten sich nicht einmal, sondern erschienen gar nicht erst im Bundestag und sind mit „nicht abgegeben“ vermerkt. Es war diese Abstimmung und die vorhergehende vom 29. Januar, die mich zu meiner Prognose für Schwarz-Blau gebracht hat. Merz hatte nach der Wahl nicht den Mumm durchzuziehen, was er mit diesen Kampfabstimmungen begonnen hat. Doch Jens Spahn hat sich seither schon mit der Forderung, die AfD wie andere Parteien zu behandeln, dezent in Position gebracht. Die Brandmauer zerreibt die Union und deshalb zeigen sich in der politischen Elite der Bundesrepublik tiefe Risse.
Im Willy-Brandt-Haus ist das alles kein Geheimnis. Für die SPD steht alles auf dem Spiel. Deshalb die Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextrem“. Die SPD versuchte über den Verfassungsschutz, die Abgeordneten der Union zur Wahl ihres eigenen Spitzenkandidaten zu prügeln! Willkommen in der Bundesrepublik des Jahres 2025!
Deutscher Bundestag (2025): 211. Sitzung des Deutschen Bundestages am Freitag, 31. Januar 2025 Endgültiges Ergebnis der Namentlichen Abstimmung Nr. 1, Link: https://www.bundestag.de/resource/blob/1042614/84f41fdc1725dbbbd0cf4e9e5e1ea407/20250131_1.pdf